Richard Wagners Rettung des Religiösen mit den Mitteln seiner Kunst hat in den allermeisten Inszenierungen seines Schwanengesangs in mindestens zwei Szenen etwas Peinliches. Da muss im dritten Aufzug nämlich an der Titelfigur ausdrücklich eine Fußwaschung nebst -Salbung vollzogen werden, daran schließt sich die Taufe der Kundry an, einer mutmaßlich jüdischen Figur mit allerhand Wiedergeburten, die einst den Gekreuzigten verlachte. Da nun nicht nur die heute allzu gern missachteten Szenenanweisungen derlei kirchliche Rituale fordern, sondern Parsifal und Gurnemanz auch ausdrücklich davon singen, kann selbst der geschickteste Regisseur kaum anders, als mehr oder weniger naturalistisch in Szene zu setzen, was der Meister sich da einst so alles ausgedacht hat. Doch auch der Gegenpol zum auf der Bühne nachvollzogenen Sakrament macht das Publikum meist nur Schmunzeln: Denn die Verführungskünste eines ganzes Harems sogenannter Blumenmädchen wirken eigentlich immer lächerlich, zeigen die Sängerinnen nun extra viel oder extra wenig nackte Haut. Was soll ein Regisseur nur tun? Wagner beim Wort nehmen? Oder ihn ironisch durch den Kakao ziehen?
Aufgeklärt, nüchtern, erhellend: gute Regie braucht gar keine Experimente
Am Landestheater Coburg ereignet sich ein erstaunlicher Gegenbeweis zur sonst allgemein seligmachenden These, dass die sattsam bekannten Meisterwerke des Musiktheaters heute nur noch durch Gegenlesen, Hinterfragen und Konterkarieren auf die Bühne zu bringen seien. Ein Regiekonzept ohne Dekonstruktion scheint kaum mehr Geltung zu haben im vom Feuilleton gern mitdiktierten Gebot der Kontingenz, des Andersmachens um jeden Preis. Jakob Peters-Messer aber inszeniert das Bühnenweihfestspiel jetzt nah am Text, ohne riskante Experimente, dafür erfreulich entrümpelt, aufgeklärt, nüchtern, erhellend. In kluger, Wagner nie desavouierender Dialektik zeigt er einerseits die religiösen Rituale, so die Abendmahlszene am Ende des ersten und die besagte Taufe des dritten Aufzugs, in großer Schlichtheit, entzaubert sie indes zugleich im oft klinisch gleißenden Licht von Bühnenbildner Guido Petzold, der das Einheitsbild eines heruntergekommenen Innenraums gebaut hat, in dem sich eine sektenähnliche Männergesellschaft versammelt, deren Lebenssaft und -Kraft weitgehend versiegt ist.
Ein Besetzungs-Coup: Roman Payer ist der Teeny-Parsifal wie aus dem Facebook-Bilderbuch
Hier taucht nun auf einmal ein kapuzenjackig unangepasster Teeny auf, ein tumber Tor wie aus dem Facebook-Bilderbuch. Roman Payer ist ein junger Ideal-Parsifal, wie man ihn nur auf der Schauspielbühne gelegentlich zu sehen bekommt; in der Oper aber sieht der Heldentenor freilich meist so aus, als würde er seine Heldentaten seit Jahrzehnten mit Vorliebe an üppig bestückten Esstischen vollbringen. Roman Payer muss nun nicht krampfhaft den jungen Burschen spielen, er ist einer, singt dazu mit einer im Lyrischen grundierten Emphase, die kein Stemmen und Forcieren, kein künstliches Aufhellen der Stimme zu Beginn und kein künstliches Abdunkeln derselben am Ende braucht, um die Entwicklung vom naiven Toren zum das Leiden der Welt erkennenden Wissenden für uns glaubhabt zu machen. Ein Besetzungs-Coup.
Die Blumen des Bösen in Baudelaires Paradis artificiels
Der Showdown zwischen Parsifal und Kundry im zweiten Aufzug erhält so allein durch die Besetzung mit Roman Payer und der deutlich älteren Tünde Szaboky genau die Spannung, die er braucht, aber allzu selten hat. Denn die Blumenmädchen, die den Rittern, die in diesem Zauberreich des Sexus landen, das Versprechen auf Befriedigung ihrer fatalen Fantasien und pädophilen Neigungen geben, können bei diesem Parsifal so gar nicht landen. In pinkes Licht getaucht erinnert die Szene an die poetischen Bilder des Wagner-Verehrers Baudelaire, in dessen Paradis artificiels die Blumen des Bösen ihr erotisches Unwesen treiben. Sie gleichen hier einer Truppe unschuldig weiß gewandeter Schulmädchen, die mit Teddys spielen. Erst die in die Jahre gekommene, cool qualmende Puffmutter namens Kundry weiß als spätes Luder der Liebe, wie man den jungen Mann kriegen kann. Sie erinnert ihn an seine Mutter, von deren Tod sie ihm berichtet hat, lässt ihn die Mutter-Sohn-Beziehung imaginieren – und küsst ihn leidenschaftlich. Der junge Mann lernt schnell, wird welthellsichtig, welterlösend. Großartig dramatisch intensiv, mit aufregender, aber nie stimmgefährender Höhenschärfe singt die Ungarin eine Kundry von ganz großem Format.
Welch ein Wagner-Ensemble!
Überhaupt: Die Musik! Coburg besetzt das Bühnenweihfestspiel großteils aus dem hauseigenen Ensemble. Michael Bachadze, ein bislang durch das italienische Fach geprägter Sänger mit kultivierter, heller Höhe, übernimmt gleich beide Baritonpartien, was Regisseur Peters-Messer im zweiten Aufzug eine kluge Verschaltung der beiden von ihren blutenden Wunden geplagten Schmerzensmännern Amfortas und Klingsor ermöglicht. Hausbassist Michael Lion ist ein deklamationsdeutlicher Chronist Gurnemanz, dem nur das Balsamische und Pianoinnige der Partie fehlt.
GMD Roland Kluttig ist Kraft- und Gravitationszentrum
Kraft- und Gravitationszentrum der umjubelten Produktion aber ist Roland Kluttig. Der Generalmusikdirektor hat mit dem Philharmonischen Orchester einen wissend phrasierten, glutvollen, stets im Fluss bleibenden Wagner voller dynamischer Feinabstufungen und klangfarblicher Entdeckungen erarbeitet. Mit feinem Sinn für die rhythmische Artikulation der vielen Punktierungen und der Prägnanz der kleinen Notenwerte spielt hier ein mit dem Spätwerk Wagner kaum vertrauter Klangkörper mit einer neugierigen Wissbegierde – und erkennt seinen Wagner besser als manch erfahrendes A-Orchester. Die Balance zwischen Graben und Bühne ist perfekt, die Holzbläser, die durch die reduzierte Streicherbesetzung besondere Hör-Aufmerksamkeit erfahren, blühen in utopischer Verheißung des Karfreitagszaubers. Roland Kluttig muss diesen Parsifal nicht weihevoll zelebrieren, er lässt ihn leuchten und glühen, seine erzählerische Dichte und immer noch moderne chromatische Schärfe entfalten. Grandios!
Landestheater Coburg
Wagner: Parsifal
Ausführende: Roland Kluttig (Leitung), Jakob Peters-Messer (Regie), Guido Petzold (Bühne & Licht), Sven Bindseil (Kostüme), Michael Bachadze, Michael Lion, Roman Payer, Tünde Szaboky, Opernchor und Extrachor des Landestheaters Coburg, Philharmonisches Orchester Landestheater Coburg