Zum 80. Geburtstag von Philip Glass gelangt eines seiner Hauptwerke zur Berliner Erstaufführung. Nach Ligetis „Le grand Macabre“ am Theater Luzern und dem Meininger Theater ist „Satyagraha“ innerhalb kurzer Zeit die zweite Koproduktion eines deutschen und eines Schweizer Opernensembles. Dritter Partner neben dem Theater Basel, wo die Produktion im Mai zum Triumph wurde, ist hier De Vlaamse Oper: In Antwerpen residiert Eastman, das Tanzensemble des längst in anderen Sparten ebenso erfolgreichen flämisch-marokkanischen Choreographen Sidi Larbi Cherkaoui. An der Komischen Oper wird das fast dreistündige Werk mit einer neuen Solistenbesetzung und vor allem durch Eastman zu einer vor innerer Spannung berstenden spirituellen Reise.
Mythos, Mystik, Historie
Mahatma Gandhis gewaltlose Revolutionsaktionen, die er in Südafrika einsetzte und später zur Zersetzung der Kolonialstrukturen Großbritanniens über Indien nutzen konnte, hat Constance De Jong im Textbuch überformt. Solorollen sind nach realen Personen gestaltet. Aber nicht nur die sich wiederholenden musikalischen Perioden („patterns“) überhöhen den Text in Sanskrit auf eine charismatische Ebene. Das Spielgeschehen entfaltet gerade durch die Abkoppelung von realistischen Vorgaben eine verführerische Wirkungskraft: Der Titel „Satyagraha“ („Kraft der Wahrheit“) verschlüsselt sich in den nach den Philanthropen „Tolstoi“ und „Tagore“ benannten Akten noch mehr zum Mysterium. Im Fließen der musikalischen Wiederholungsstrukturen werden Gebete und philosophische Axiome zu Inseln mit Sinn.
Ballungen von Gewalt
Am Beginn dringt aus Gandhis Denken ein Dialog des Gottes Krishna mit dem Prinzen Arjuna nach Texten aus dem hinduistischen „Bhagavad Gita“, eine Klage gegen die Sinnlosigkeit von Krieg zwischen Verwandten und Freunden. Die Musik dazu ist wie entkörperlicht und in dieser Abstraktion faszinierend. Am Ende schwebt Gandhi im Lotussitz allein auf der als bewegliches Riesenquadrat bestimmten Spielfläche. Hier ertönt letztmalig der Satz: „Betrachte alles als gleich, Vergnügen und Schmerz, Gewinn und Verlust, Sieg und Niederlage.“ Dazwischen vermischen sich Aggressionen aus mythischen Urgründen, der Zeit Gandhis und heute. In den alle impulsiven und tänzerischen Bewegungen noch mehr intensivierenden Kostümen Jan-Jan Van Essches rücken die Chorsolisten und blutverschmierte Tänzer an. Auch Tänzerinnen, mit denen der Choreograf das hierarchische, elitäre, stellenweise Frauen abwertende Denken des historischen Vorbilds Mahatma Gandhi konterkariert.
Stefan Ciffolelli als M. K. Gandhi ist der Fixstern in allen Bewegungen, Verschmelzungen, Verletzungen und Gewaltmärschen, von denen Sidi Larbi Cherkaoui erzählt. Das hat an der Komischen Oper schon deshalb einen sängerdarstellerischen Bonuswert, weil der lyrische Tenor sein Material in der fast ausschließlich geforderten Mittellage nicht nur schönklingend versachlicht, sondern immer wieder mit Textdeutlichkeit aufraut. Neben ihm, das ist so komponiert, bleiben alle anderen Solisten des ausdrucksstarken Ensembles Episodenfiguren.
Packend zusammengeschweißte Ensembleleistung
Das liegt auch am unheimlich dichten, bis zum Schluss über nicht ganz so starke Sequenzen tragenden, konfrontativen Puls der Inszenierung. Sidi Larbi Cherkaoui schweißt die von David Cavelius für ihren anstrengenden Part glänzend präparierten Chorsolisten und sein Tanzensemble zusammen. Jede Kante und Ecke der minimal asymmetrischen Bewegungsfiguren generieren Hintersinn und Rundungen, die bei dieser Glass-Deutung nicht aus dem Orchester kommen. Es ist ein Gewinn, dass Jonathan Stockhammer am Pult die Musiker vom Vorbild des immer weichkonturierenden Philip-Glass-Ensembles freispricht und den spezifisch trockenen Klang des Orchesters der Komischen Oper in die hochkomplizierte Partitur zieht. Dagegen opponiert der pulsierende Fluss von Sidi Larbi Cherkaouis Bewegungssprache. Er, Jonathan Stockhammer und Henrik Ahrs deutlich definierter Spielraum im schwarzen Rahmen der Bühne heizen das Werk auf mit einer sensitiven Dynamik, die das Publikum am Ende von den Sitzen reißt.
Faszinierende Bilder gegen eine Ästhetik der Glätte
Nicht alle freilich, ein Teil der Hörer ist am Ende wie paralysiert. Höchstwahrscheinlich weil Sidi Larbi Cherkaoui in zwei zentralen Szenen die Kräfte von Masse, Macht, Power und Fatalismus mit einer Überwältigungskraft derart sinnfällig macht, dass es den Atem verschlägt. Das entfesselte Kollektiv hebt, schleudert, schlägt und fängt am Beginn des zweiten Aktes Gandhi zwischen, über, unter sich. Lange Minuten wird Stefan Cifolelli zum willenlosen Körper, der die von ihm gepredigte Gewaltlosigkeit verwirklicht und ins gefühlt Endlose verlängern lässt: Das ist ein zutiefst beindruckender und möglicherweise kaum zu wiederholender Punkt ensembledynamischen Vertrauens. Genauso wie der Moment, als sich über einen Tänzer, der als ausgegrenztes Individuum seinem Anspruch auf Leben explosiven Ausdruck gibt, die harte Decke bis in Kniehöhe herabsenkt: Ein brutales und im Wortsinn „erdrückendes“ Bild. Hier modelliert Cherkaoui beklemmend eine Ästhetik des körperlichen Widerstands gegen Glass‘ Versuchungen zu einer Ästhetik der Glätte. Zu Recht sind die fünf Vorstellungen ausverkauft.
Komische Oper Berlin
Glass: Satyagraha
Jonathan Stockhammer (Leitung), Sidi Larbi Cherkaoui (Regie & Choreografie), Henrik Ahr (Bühne), Jan-Jan von Essche (Kostüme), Pavel B. Jiracek (Dramaturgie), David Cavelius (Chor), Stefan Cifolelli (M. K. Gandhi), Cathrin Lange (Miss Schlesen, seine Sekretärin), Mirka Wagner (Mrs. Naidoo), Karolina Gumos (Kasturbai, Gandhis Frau), Tom Erik Lie (Mr. Kallenbach), Tomasz Wija (Parsi Rustomji, indischer Mitarbeiter), Katarzyna Włodarczyk (Mrs. Alexander), Samuli Taskinen (Lord Krishna), Timothy Oliver (Prince Arjuna), Tänzer von Eastman, Antwerpen, Chorsolisten der Komischen Oper Berlin, Orchester der Komischen Oper Berlin