Welch ein schöner philosophischer, dabei sanft moralisierender Originaltitel: „Vincer se stesso à la maggior vittoria“. Zu deutsch: „Sich zu selbst zu besiegen, ist der größte Sieg.“ Und welch einen speziell klangvollen Namen trägt der lange strittige, mittlerweile eindeutig belegte Ort der Uraufführung des „Rodrigo“, wie das Werk heute genannt wird: Im Florentiner Teatro del Cocomoro brachte Georg Friedrich Händel seine erste italienische Oper anno 1707 zur Uraufführung. Also im Gurkentheater. Qualitativ abwertend ist der Name freilich nicht zu verstehen, das heute als Teatro Niccolini weiterhin bestehende Haus wurde einst von den Medici für Schauspielaufführungen in Auftrag gegeben. Es lag an der damaligen Via del Cocomero, der Gurkenstraße, unweit des Doms von Florenz.
Der kühne Jüngling Georg Friedrich Händel
Händel war zur Premiere 22 Jahre jung, als er die Lehrjahre in Hamburg beendet und seine Wanderjahre in Italien begonnen hatte, um in vollen Zügen aufzusaugen, wie Oper wirklich geht – im Lande der Erfinder der verrückten Kunstgattung. Schnell machte der Deutsche von sich reden. Ein Empfehlungsbrief an Prinz Ferdinando de› Medici nannte den aufstrebenden Musiker bereits den „Sassone famoso“ – den „berühmten Sachsen“. Gar nicht übel für einen kühnen Jüngling, der ohne Umwege in den höchsten Zirkeln des Landes Fuß fasste.
Rodrigo: Rasante Racheschwüre und langgezogenes Liebeslegato
Ein Jahr vor ihrem großen Jubiläum, in dem die Internationalen Händel-Festspiele Göttingen dann in 2020 ihr 100. Geburtstag feiern werden, ist nun im Deutschen Theater dieser „Rodrigo“ in einer Neuinszenierung von Walter Sutcliffe zu bewundern. Das Werk hat zwar noch nicht die affektpralle Arien-Hit-Dichte, die Händel alsbald erreichte, und es ist mit weniger als drei Stunden Spieldauer ein geradezu schnelles Opera seria-Vergnügen. Doch die Genialität des „berühmten Sachsen“ ist bereits durchweg spürbar. Noch nicht so sehr in der überlangen, barocke Tanzsätze pflichtschuldig aneinanderreihenden Ouvertüre, die der Regisseur zur Exposition der sexuellen Machenschaften des allzu gierig dem Hedonismus huldigenden Gotenkönigs Rodrigo nutzt. Aber das effektvolle Wechselspiel der Arien zwischen rasanten Racheschwüren und langgezogenem Liebes- und Sehnsuchtslegato zeugt bereits von der einsamen Größe, zu der sich der junge Meister alsbald aufschwingen wird.
Sich innig umschlingende, überströmende Sopranstimmen
Und zwei umwerfende Ausnahmeduette gibt es zu vermelden, die bereits zum Besten gehören, das Händel an gefühlspräzisen Opernrezepten ausgestellt hat. Wenn der geläuterte, sich selbst in seiner Egomanie besiegende Rodrigo sich zum Ende der Oper hin wieder seiner allen Eskapaden ihres Gatten zum Trotz göttinnengleich treuen Esilena zuwendet, dann erfindet Händel das Duett zweier sich innig umschlingender, gleichsam überströmender Sopranstimmen. Wenig später folgt ein zweiter solcher magischer Moment des sich wiedergefundenen Paares. „Ist ein Traum, kann nicht wirklich sein.“, hat Hofmannsthal zwei Jahrhunderte solche utopischen Augenblicke in Worte gefasst. Und man denkt und hört voraus, wie die Operngeschichte vom barocken Händel sich geradewegs weiterwand bis zu den Spätromantikern Wagner und Strauss.
Kostbarkeiten der Vokalkunst
Die Wirkung solcher Kostbarkeiten der Vokalkunst stellte sich in Göttingen indes so wunderbar ein, weil die beiden für Rodrigo und Esilena engagierten Sopranistinnen herrlich harmonieren. Erica Eloff mimt den einst für einen Soprankastraten erdachten Part der Titelfigur, Fflur Wyn die Esilena. Eloff gibt dabei die nicht nur vokale Verwandlungskünstlerin. Sonst als Mozarts Fiordiligi oder Puccinis Tosca unterwegs, mischt sie ihrer geschmeidigen Stimme so geschickt auch herbe, ganz aus dem Wortduktus heraus entwickelte Töne bei, sodass wir ihr den selbstverliebten König komplett abnehmen. Dazu hat die Südafrikanerin sich so perfekt einen männlichen Bewegungsgestus anverwandelt (auch die Maske hat ganze Arbeit geleistet!), dass die Geschlechtertäuschung ohne Abstriche funktioniert. Fflur Wyn gibt die engelsgleiche Esilena-Gattin als einzigen stabilen Charakter der Handlung und mit einer gleichermaßen raffinierten wie natürlich wirkenden Barockstilistik, gestochenen Koloraturen sowie traumwandlerisch auf ewigem Atem gesungenen ganz langen Tönen. Welch ein Atemtechnik, mit der sie „la costanza“, die Beständigkeit besingt! Und die obligate Violine, die Händel ihr an die Seite stellt, schmiegt sich ihrer Stimme herrlich an. Das Festspielorchester aus internationalen Expertinnnen und Experten der historischen Aufführungspraxis ist mal wieder exzellent besetzt, steuert unter Laurence Cummings den ganz ausgewogenen, farbigen wie fetzigen, aber eben niemals übersteuerten Händel-Sound bei.
Flammender Furor
Mit den Koloraturen nimmt es die restliche Besetzung nicht ganz so genau wie Fflur Wyn. Doch vermisst man bei den Internationalen Händel-Festspiele Göttingen die Superstarts des Barockgesangs wie eine Cecilia Bartoli oder einen Franco Fagioli nur bedingt. Denn die eben nicht nur in der Alten Musik beheimateten Sänger passen bestens zusammen, erspüren den dramatischen Puls von Händels Arien, haben ausgeprägte musikalische Intelligenz. Wie Anna Dennis als eigentliche Gegenspielerin des Königspaars die Florinda gestaltet, hat flammenden Furor. Mit Florinda hat Rodrigo zu Beginn der Handlung ein Affäre und einen Sohn gezeugt. Florindas Ehrgeiz der Vergeltung verleiht die Sopranistin dralle Dramatik. Countertenor Russell Harcourt als am Ende die Macht übernehmendem Evanco singt seine Piani zärtlich, die Fortissimi spitz. Jorge Navarro Colorado schenkt dem die Seiten von Rodrigo zu Evanco wechselnden Giuliano geschmeidige Tenortöne.
Fantastisch runtergerockte Palazzoruine
Die Historie um Roderich, den letzten König der Westgoten in Hispanien, birgt, wie so oft in barocken Libretti, weniger politischen Sprengstoff, sie ist Folie für das persönliche Beziehungsnetz der Protagonisten. Das entfaltet sich in Göttingen im genialischen Bühnenbild von Dorota Karolczak. Die Designerin und Architektin
hat im Teatr Wielki im polnischen Posen eine fantastisch runtergerockte Palazzoruine bauen lassen, aus dessen eingebrochener Decke Susanne Reinhardt fantastische, Lichtstimmungen herein scheinen lässt. So entsteht ein magischer Realismus, der Händels barockem Zauber enorm gut tut. Walter Sutcliffe setzt klar gezeichnete Figuren in diesen tollen Raum, durchgeknallt dekadente Emotionsextremisten der Gegenwart, deren von Interessen geleite Egoismen uns immer wieder erschreckend bekannt vorkommen, ohne dass in platten Analogien auf die Mächtigen unserer Zeit Bezug genommen werden müsste.
Internationale Händel-Festspiele Göttingen
Händel: Rodrigo
Laurence Cummings (Leitung), Walter Sutcliffe (Regie), Dorota Karolczak (Bühne & Kostüme), Susanne Reinhardt (Licht), Erica Eloff, Fflur Wyn, Anna Dennis, Jorge Navarro Colorado, Russell Harcourt, Leandro Marziotte, Festspielorchester Göttingen