Diese kleine unheilvoll heile Welt mit ihren engen Grenzen ist nicht in Opfer und Täter zu trennen. Es gibt keine Guten und Bösen in diesem mährischen Dorf, dessen Mittelpunkt in Henrik Ahrs Bühnenbild nicht etwa die Kirche ist, sondern ein Bauernhaus ganz aus Holz mit einer verblüffend bis zum Spitzdach führenden Treppe ins Freie, die nur fast niemand benutzt – außer der Küsterin. Nachdem sie den neugeborenen Knaben ihrer Ziehtochter Jenůfa, der in seinen wenigen Lebenstagen statt in einer Krippe in einem grauen Wassertrog schlief, eigenhändig erstickt hat, entflieht sie ihrem trauten Heim hier hinauf, um das tote Baby im gefrorenen See zu entsorgen. Und es schaudert uns nicht nur ob des Kindsmords, der die „Schande“ des unehelichen Kindes unsichtbar und ungeschehen machen soll. Vielmehr löst auch die Küsterin in Gestalt und Stimme von Evelyn Herlitzius nichts als Mitgefühl aus. Ja, Leoš Janáčeks naturalistisches Meisterwerk wird am Grand Théâtre de Genève zu einem einzigen großen Schrei nach Empathie.
Musiktheater der kathartischen Verwandlung
Tatjana Gürbaca hat mit ihrer Inszenierung nicht weniger als eine exemplarische Deutung vorgelegt, die ganz hellhörig auf jede Regung der Musik lauscht und direkt aus ihr die Gesten und die Blicke, die Annäherungen und Abstoßungen der Figuren ableitet. Wenn es ihn nicht schon seit Jahrzehnten als Abgrenzung von der Oper als einer Kunstform des bloßen Genusses schöner Stimmen gäbe, müsste man für diesen enorm berührenden, im besten Sinne erschütternden Abend den Begriff „Musiktheater“ eigens erfinden. Denn im Musiktheater soll ja, wie Götz Friedrich einst feststellte, geklärt werden, warum Menschen singen, warum sie sich auf diese höchst unwahrscheinliche Form der Kommunikation zwingend einlassen, nicht etwa weil sie wollen, sondern weil sie dies müssen. Um damit Wahrheiten zu verkünden, die nur auf diesem Wege auszudrücken sind, die uns kathartisch erschüttern, verändern oder besser noch: verwandeln.
Grazile Kindfrau
Von der Verwandlung einer jungen Frau erzählt uns Tatjana Gürbaca nun also. Die sieht eigentlich zu Beginn noch wie ein Mädchen aus. So grazil kindfraulich wirkt die Erscheinung von Corinne Winters, die da in ihrem hellblauen Kleidchen als Jenůfa zu Anfang auf der großen Treppe steht und die Stufen putzt. Kann so ein Wesen schon die Sünde kennen? Sie hat sich halt in den feschen Aufschneider Števa (früher nannte man solche Kerle wohl Schürzenjäger) verguckt und erwartet nun, in den ersten Takten ist ihr sichtlich übel, ein Kind von ihm. Doch eine Beziehung wird sie, das schwärmerische und gebildete Mädchen, mit dem Trinker niemals führen können. Das weiß niemand so gut wie die Küsterin, die alles, ja auch die Grundfesten ihres christlichen Glaubens, daran setzt, Jenůfa eine echte Lebensperspektive zu eröffnen. Die Küsterin der Evelyn Herlitzius ist also viel weniger das mörderische Monsterweib, als das sie sonst mit den krassen Verhärtungen ihres Herzens zu oft vorgeführt wird. Zu Beginn glaubt man angesichts der raumsprengenden Präsenz, der Mimik und Gestik der großen Hochdramatischen, dass ihre Blicke töten können. Doch Janáček will nicht richten, das weiß die Regisseurin ganz genau. Er will tief in die Seelen seiner Figuren schauen. Und dies tut Gürbaca fernab jeglichen Moralisierens mit und für den Komponisten einfach so viel genauer, als Regisseure dies sonst so tun.
Eine sängerdarstellerische Sensation: Corinne Winters
Die Sensibilität der Regisseurin trifft dabei freilich auch auf singende Persönlichkeiten, mit denen eine solche Arbeit in höchster Vollendung erst möglich ist. Corinne Winters gleicht einer sängerdarstellerischen Sensation. So mädchenhaft grazil ihre Erscheinung, so fraulich intensiv ihre Stimme, die Wärme und Wucht, Leuchtkraft und Klarheit, Dramatik und Lyrik ideal verbindet. Kaum ein Wunder, dass sie im Sommer bei den Salzburger Festspielen wiederum mit Janáček debütieren soll. Dort wird es im August dann die Katja Kabanova sein – erneut an der Seite von Herlitzius. Barrie Kosky soll inszenieren. Die Wandlung vom Mädchen zur Frau vollzieht Corinne Winters in Genf auch mit Hilfe von Kostümbildnerin Silke Willrett, die ihr zur erlösenden Hochzeit mit Laca, der zunächst nicht mal ihre zweite Wahl war, ein schwarzes Brautkleid anlegt. Nur die daseinsfroh rundliche wie rauchende Oma Buryjovka trägt zum großen familiären Ereignis ihrerseits ganz klassisches Brautweiß. Carole Wilson gibt ihr das scharf gezeichnete Profil einer alten Frau, die das lebenspralle Hoffen und Sehnen nicht verlernt hat. Der Laca des Daniel Brenna ist endlich mal kein warmduschendes Weichei, sondern ein ernstzunehmender Bewerber um Jenůfas Gunst. Er singt ihn dazu mit dem hellen Heldentenor eines jugendlichen Siegfried. Kindsvater Števa leiht Ladislav Elgr seinen charakterstarken Tenor und zeigt dazu, dass er mehr als ein treuloser Mistkerl ist. Er weiß sehr wohl, dass er Mist gebaut hat und wirkt verdammt verlegen, als er seinem Nachfolger Laca dann versöhnlich die Hand reichen soll.
Feinheit der orchestralen Farbmischungen
Das Ausloten psychologischer Beweggründe des Handelns durch Regisseurin und Sängerteam entspricht dem präzisen Aushören der Partitur durch Tomáš Hanus, der mit dem Orchestre de la Suisse Romande eine tiefenscharfe orchestrale Seelenschau betreibt. Diese Feinheit der Farbmischungen, dieses Ausloten der unerhört Leisen Zwischentöne, dieses Sublimieren des Folkloreelements der Partitur lässt uns das Werk ganz neu verstehen. Dazu atmet der Tscheche mit den Sängern, wie es wohl nur ein Muttersprachler kann. So geht packendes Musiktheater absoluter Wahrhaftigkeit.
Grand Théâtre de Genève
Janáček: Jenůfa
Tomáš Hanus (Leitung), Tatjana Gürbaca (Regie), Henrik Ahr (Bühne), Silke Willrett (Kostüme), Stefan Bolliger (Licht), Bettina Auer (Dramaturgie), Corinne Winters, Daniel Brenna, Ladislav Elgr, Evelyn Herlitzius, Carole Wilson, Michael Kraus, Michael Mofidian, Borbála Szuromi / Clara Guillon, Eugénie Joneau / Séraphine Cotrez, Chor des Grand Théâtre de Genève, Orchestre de la Suisse Romande