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Opern-Kritik: Grand Théâtre de Genève – Chowanschtschina

Nichts als Nihilismus

(Genf, 25.3.2025) Der einstige Skandalregisseur Calixto Bieito und der kluge Dirigent Alejo Pérez verständigen sich auf eine konsequente Lesart von Mussorgskis Volksdrama, die aus dessen disparater Dramaturgie die tragische Wiederholung der brutalen russischen Geschichte herausliest.

vonPeter Krause,

In Modest Mussorgskis „Chowanschtschina“ ist Moskau ein Ort, an dem Menschen aufeinander Jagd machen. Niedere und niederste Instinkte brechen sich Bahn. Strategisch motivierte Morde sind so selbstverständlich an der Tagesordnung wie ganz normale Intrigen und Lügen, die heute hübsch euphemistisch „alternative Fakten“ heißen. Denn so viel scheint sich dann doch nicht geändert zu haben seit dem späten 17. Jahrhundert, in dem der russische Romantiker sein düsteres Sittengemälde ansiedelte und mit breitem Pinsel ausmalte – mit relativer Nähe zu den wahren historischen Ereignissen jener Zeit, die er im eigenen Libretto in Worte setzte, darin unterstützt von Wladimir Stassow.

Es sind dies die Jahre vor dem Regierungsantritt des jungen Zaren Peter (der später als „der Große“ in die Geschichte eingehen sollte), in denen zunächst seine rivalisierende Halbschwester Sophia als Regentin wirkte und noch versuchte, die widerstreitenden Interessen von Volksgruppen, Familienteilen, konkurrierenden Militärverbänden, Altgläubigen und Reformierten sowie nach Europas Westen orientierten Fortschrittlichen halbwegs auszugleichen.

Am Grand Théâtre de Genève hat Intendant Aviel Cahn nun die Neuinszenierung des „Musikalischen Volksdramas“ Calixto Bieito anvertraut, der in der Westschweiz damit seine Regie-Trilogie des opulenten russischen Repertoires abrundet: nach Prokofjews „Krieg und Frieden“ sowie der „Lady Macbeth von Mzensk“ von Schostakowitsch – zwei starken wie streitbaren Inszenierungen, in denen wiederum Dirigent Alejo Pérez als musikalischer Partner fungierte.

Szenenbild von „Chowanschtschina“
Szenenbild von „Chowanschtschina“

Manisches Getriebensein zwischen Archaik und Moderne

Der Maestro verdeutlicht in der dritten gemeinsamen Arbeit in Genf sogleich, warum es richtig ist, im Kern auf die Schostakowitsch-Fassung von „Chowanschtschina“ zurückzugreifen. Denn da ist nichts geglättet oder geschönt. Wir hören die Härte pochender Ostinati, die davon künden, dass sich (nicht nur in Russland) die Geschichte wiederholt – leider ein ums andere Mal als Tragödie; wir vernehmen das manische Getriebensein der Charaktere, für das Alejo Pérez entsprechend vorantreibende Tempi findet; wir spüren das musikalisch Disparate dieser grandiosen Partitur, deren Changieren zwischen Archaik und Modernität Mussorgsky fraglos meinte, der aber über der reinen Klavierfassung nach Jahren des übermäßigen Alkoholgenusses verstarb.

Die lange als übliche geltende Orchestrierung von Rimski-Korsakow ebnet da mitunter ein (und kürzt), was als Schärfe im Stück dennoch angelegt ist. Letztere wird jetzt gleichermaßen herausgemeißelt wie klug fokussiert. Das romantische Schwelgen in Agogik und Phrasierung fehlt bei Alejo Pérez dennoch nicht, aber das Pathos von der heraufbeschworenen guten alten Zeit und das Sentiment triefen eben nicht. In Genf ist eine musikalisch enorm durchdachte, die Partitur hinterfragende, ja, eine packende Konzeption zu erleben, die das Orchestre de la Suisse Romande mit Verve und immer wieder mit famosen Soli umzusetzen weiß.

Szenenbild von „Chowanschtschina“
Szenenbild von „Chowanschtschina“

Mechanismen der Machterhaltung: einst und heute

Calixto Bieito – unter deutschen Opernfans als die spanische Skandalnudel des Regietheaters mit deutlicher Neigung zu spritzenden Körpersäften und allerhand Perversitäten berüchtigt – ist nun in seiner Inszenierung stets dann am stärksten, wo er der Macht der Musik vertraut: Da findet er teils zu bestürzenden Bildern, zu einer genauen Zeichnung der Figuren einschließlich der Nebenrollen und durchaus auch zum großen Bogen, den das Stück braucht, um das Schlaglichtartige seiner Dramaturgie erzählerisch zu überspannen.

Dazu braucht Bieitos Bühnenbildnerin Rebecca Ringst diesmal gar nicht den Überwältigungsfaktor einer opulenten Installation. Eine höchst variable LED-Videowand, deren Elemente sich bewegen und zum Labyrinth formen können, sorgt für wechselnde Schauplätze, für Einblendungen von visuellen Botschaften, deren Manipulationsmöglichkeiten unserer politischen Wahrnehmung aktuelle Machtmechanismen zwingend brauchen.

Da erscheinen also nun die Sänger der Hauptfiguren mit ihren gebetsmühlenartig wiederholten Botschaften eines „Make Russia great again“, das jenes Narrativ in den Köpfen festsetzt, nach dem ein Zurück-in-die-Zukunft das Elend der Gegenwart irgendwie erträglich macht, vielleicht ja sogar überwindet. Ob diese Gegenwart nun eine heutige oder seinerseits schon eine historische ist, müssen Bieito und sein Team nicht festlegen.

Denn die Bilder gleichen sich wie die Mechanismen der Machterhaltung, geht es nun gerade um zaristische, kommunistische oder faschistische Machthaber. Die Fährte, die in der Inszenierung zu Beginn mit dem Mut zur Groteske gelegt wird, muss also hernach gar nicht stringent weiterverfolgt werden: Da wird also der in einem roten Sarg aufgebarte tote Diktator Stalin präsentiert.

In seiner altbewährten Neigung zur pseudorealistischen Drastik lässt Bieito den sängerschauspielerisch höchst prägnanten jungen Tenor Emanuel Tomljenović als Kusjka – eine der vom Regisseur groß gemachten Nebenfiguren – in irrer Lust das Hirn des Verstorbenen verspeisen. Das ist so eklig wie überflüssig, aber ein Regisseur wie Bieito muss eben auch in einer so stimmigen und stringenten Inszenierung wie dieser seinen über Jahrzehnte etablierten Markenkern pflegen.

Szenenbild von „Chowanschtschina“
Szenenbild von „Chowanschtschina“

Plastische Figuren im Fokus

Wenn die wimmelnde Flut der Bilder sich jedoch beruhigt, besticht die Regie – nun meist auf fast leerer Bühne, die Michael Bauer deutlich ausleuchtet – mit ihrem feinen Fokus auf die Figuren, die so plastisch und mehrdimensional erscheinen, wie es sich in packendem Musiktheater gehört. Jenseits des simplifizierenden Klischees von Good guys and Bad guys lernen wir die schillernden und das Volk verführenden Typen des Volksdramas kennen: Der dem Werk seinen Titel (frei aus dem Russischen heißt Chowanschtschina in etwa: „Die Schweinereien des Chowanskij“) gebenden Strelitzenführer Chowanskij ist in Gestalt von Dmitry Ulyanov ein herrischer, ausgebuffter, in seinen (nicht zuletzt sexuellen) Begierden aber auch etwas primitiver Führer einer meist vermummten Sturmtruppe, die auf Einschüchterung ohne Kompromisse aus ist.

Sein roher, überwältigender Bass passt ideal zu diesem Rollenportrait. Dossifej als höchster Vertreter der strengen, konservativ orthodoxen Traditionalisten der Altgläubigen kontrastiert dazu dank Taras Shtonda stimmlich in idealer Weise: mit einer unfasslich düsteren, keineswegs balsamischen Grabesstimme von Bass. Das ist kein gütiger Geistlicher und warmherziger Vater, sondern ein durchaus furchteinflößend gestrenger Hüter des alten Rechts und der alten Regeln (bei Wagner hieße er Titurel). Ingo Krügler stattet ihn mit einem gigantischen Gebetsteppich aus, den er über seinen Schultern trägt.

Szenenbild von „Chowanschtschina“
Szenenbild von „Chowanschtschina“

Den besten und schicksten Anzug des Abends trägt Vladislav Sulimsky als Schaklowityi, nach Außen ein (Sauber-) Mann mit Manieren und artiger Aktentasche (und der schönsten Arie des Werks), als heimlicher Stratege aber ein kaltblütiger Mörder, der Chowanskij – wie weiland in der griechischen Antike Agamemnon – im Bade eigenhändig kaltstellt.

Die Wohlerzogenheit des Fürsten Golizyn ist dank des famosen Tenors Dmitry Golovnin eine weitgehend glaubwürdige: Er stellt einen aufrechten reformorientierten Verwalter des Systems dar, der die Öffnung Russlands gen Westen betreibt: Der historisch überlieferte Fürst war ein feiner, gebildeter Geist, der nicht nur Russisch, sondern auch Polnisch, Deutsch und Lateinisch sprach. Bieito zeichnet ihn als Freund Europas, der in seinem Büro die Flaggen der EU-Staaten präsentiert.

Wenn die Bühne zu einem Wahrheitsraum der Erkenntnis wird

Die spannendste und berührendste Figur aber ist jene Marfa, die zwar den Altgläubigen nahesteht, als Frauentyp zwischen Erda, Kundry und Azuzena aber über jenes tiefere weibliche Wissen und Fühlen verfügt, das immerhin das Potenzial auf eine Veränderung zur besseren Welt in sich birgt. Die Amerikanerin Raehann Bryce-Davis singt und spielt sie weit jenseits des Stimmklischees einer mütterlich pastos orgelnden, wohlig warmen Alt-Stimme eines Ur-Weibs als genuin dramatisch durchpulste, kämpferische, stimmlich farbenreich differenzierende starke Frau.

Szenenbild von „Chowanschtschina“
Szenenbild von „Chowanschtschina“

Man merkt: Diesem Charakter gehören die Sympathien des Regisseurs, mit dieser Ausnahmesängerin konnte er sein seltenes Geschick voll ausreizen: die Grenzen der eigenen Komfortzone sprengen, so dass die Bühne zu einem Wahrheitsraum der Erkenntnis wird, in dem die Trennung von Kunst und Leben nicht mehr klar zu ziehen ist. Eine weitere Hauptrolle gibt es in genau dieser Hinsicht: den Chor als Inkarnation des Volks. Hier beweist nun der Chor des Grand Théâtre de Genève erneut seine Extraklasse in puncto homogener stimmlicher Wucht auf der einen wie in extrem sensibel ausgehörter Pianissimo-Verletzlichkeit auf der anderen Seite. Das Finale – in Genf ist der Strawinski-Schluss zu hören – gehört ganz dem Kollektiv. Mit der Zugfahrt ins Gulag geht der Regisseur ins volle Risiko, öffnet Assoziationsräume, die verstören und wehtun, aber dennoch ins Schwarze des Stücks zielen.

Denn Anfang und Ende der Oper markiert eine dialektische Licht-Metapher: Die initiale Morgendämmerung, die Alejo Pérez mit dem Orchester luzide auffächert, hat utopischen Charakter. Der finale Feuertod der Altgläubigen dreht die Utopie ins Nihilistische. Das vorangehende Trompetensignal (effektvoll aus dem Rang des Grand Théâtre de Genève intoniert) – jene Tuba mirum, die Ernst Bloch zumal in Beethovens „Fidelio“ mit dem Vorschein der Utopie verband – ist nun nurmehr Ankündigung der Vernichtung, des Abglanzes, des Schweigens im Angesicht des totalen Endes.

Grand Théâtre de Genève
Mussorgsky: Chowanschtschina

Alejo Pérez (Leitung), Calixto Bieito (Regie), Rebecca Ringst (Bühne), Ingo Krügler (Kostüme), Michael Bauer (Licht), Sarah Derendinger (Choreographie), Beate Breidenbach (Dramaturgie), Marc Biggins (Chor), Dmitry Ulyanov, Arnold Rutkowski, Dmitry Golovnin, Taras Shtonda, Raehann Bryce-Davis, Vladislav Sulimsky, Ekaterina Bakanova, Michael J. Scott, Liene Kinča, Chor des Grand Théâtre de Genève, Maîtrise du Conservatoire populaire de Genève, Orchestre de la Suisse Romande

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