Das komplexbeladene Häufchen Elend namens Elektra, mit furchtbaren Augen so früh alt geworden, dass ihr eigener Bruder sie nicht erkennt – dieses mitleiderregende Geschöpf ist psychologisch gesehen ein kleines Mädchen geblieben, das mit Puppen spielt. In seiner grandiosen Göteborger Neuinszenierung lässt Hausherr Stephen Langridge seine Elektra mit gleich drei Puppen hantieren. Sie gleichen den drei Kindern des Agamemnon – Elektra, Chrysothemis und Orest. Am Ende, als der Bruder Rache genommen hat an den Mördern seines Vaters, schickt Elektra die Puppenkinder zu dritt ins Bettchen. Ob jetzt alles gut wird, ist freilich fraglich. Denn Langridge und sein Dramaturg Göran Gademan haben die sonst gestrichenen Sätze wieder aufgenommen, in denen Elektra davon berichtet, wie Agamemnon sich ihrem Mädchenbett einst in keineswegs rein väterlichen Gefühlen näherte. Nicht nur das Morden, auch der Inzest hat bei diesen freudianischen Atriden nun mal Tradition. Elektra verlor ihre Unschuld durch den eigenen Vater.
Drastik und poetischer Realismus
Stephen Langridge erfindet einen drastischen und gleichwohl poetischen Realismus in seiner bildkräftigen, packenden, hoch präzisen, Hofmannsthal und Strauss beim Wort nehmenden Inszenierung. Die Bühne von Conor Murphy ist in ihrem kühlen Art-déco-Schick ein treffliches Bild. Die hohe Wand des grauen Halbrunds ist zunächst klaustrophobischer Bunker, in dem Elektra ihr Dasein fristet: Die Königstochter ist äußerlich so gefangen wie innerlich – im zwanghaften Erinnern an die Stunde, in der ihr Vater von der Mutter „im Bade“ erschlagen wurde. In einem stummen Vorspiel sehen wir Agamemnon zu, wie er sich auszieht, in die Badewanne steigt und darin von Klytämnestra bestialisch abgeschlachtet wird – bereits zu den wuchtigen Anfangsakkorden des Stücks, dem Agamemnon-Motiv. Am rechten Rand führt ein sich öffnender und sich wieder schließender Treppenhausturm (uns Zuschauern wird die Mauerschau gegönnt) hinauf zu den Gemächern von Mutter und Stiefvater. Die graue unheilige Halle ist eben auch Vorraum einer bluttriefenden Machtzentrale, ein unwirtlich leerer Durchgangs-Unraum, in dem einzig die Badewanne den ganzen Abend über stehen bleibt – als Stein des Erinnerns Elektras an den Moment des Grauens.
Elektra will nur noch „Schweigen und Tanzen“
In diesem Ambiente lassen Langridge und sein Choreograf Fotis Nikolaou nun Hofmannsthals und Freuds Wien der Entstehungszeit des Stücks ebenso mitschwingen wie die zentrale Metapher des Tanzens. „Schweigen und Tanzen“ steht als Schriftzug auf dem schwarzen Vorhang des Beginns; „Schweigen und Tanzen“ sind das Lebensziel der Elektra, als ihr Bruder schließlich doppelt Rache genommen hat an den Mördern ihres Vaters. Vier schweigende, elegante Tänzer im Frack laden den Regie-Realismus poetisch vielsagend auf. Wird das schweigende Tanzen nunmehr Elektras neue Daseinsform werden, weil sie sich jetzt nicht mehr tagtäglich erinnern muss an die Todesstunde des geliebten Vaters? Langridge lässt Elektra nicht sterben, sie hängt sich schließlich in die graue Rückwand, deren spitzige Stäbe es erlauben, an ihr emporzuklettern, und die dennoch wie Folterinstrumente wirken. Einen Ausweg nach oben gibt es aus diesem Verließ sicher nicht.
Hoch lebe das Hausensemble!
Für veritable Strauss-Schauer sorgt auch eine fulminante Besetzung, großteils aus dem Ensemble! Denn die Göteborgs Operan, schöpfend aus dem Pool exzellent ausgebildeter schwedischer Sänger, setzt noch auf das uralte Erfolgsrezept des Hausensembles. Mit Annalena Persson – sie wird hier die Brünnhilde im neuen „Ring“ sein – haben die Göteborger sogar eine eigene Hochdramatische vor Ort, sie musste die ersten Vorstellungen indes krankheitsbedingt absagen. Ihre deutsche Fachkollegin Sabine Hogrefe konnte rechtzeitig in der Titelpartie einspringen und sich in das Regiekonzept einfinden. Anfangs in ihrer dramatischen Durchschlagskraft noch auf ein allzu weit ausschwingendes Vibrato vertrauend, sang Sabine Hogrefe in der Premiere eine hoch respektable, in der berührenden Wiedererkennungsszene – in der griechischen Dramentheorie als Höhepunkt „Anagnorisis“ benannt – auch mit inniger Lyrik und sicherem Fokus.
Carolina Sandgren ist dagegen eine hell timbrierte, bei ihrem Rollendebüt noch nicht vollends aufblühende Chrysothemis. Katarina Karnéus, ebenfalls debütierend, ist dafür als Klytämnestra schon jetzt wahre Weltklasse: Ihre Textpräsenz, ihre orgelnde Tiefe, ihre Charakterisierungsschärfe und ihr dennoch hinreißender Gesang empfehlen die Mezzosopranistin längst für eine internationale Karriere, die in Barcelona, Stuttgart und den Festspielen in Baden-Banden bereits ihren Anfang nimmt.
Olaf Henzold am Pult eines maximal motivierten Göteborgsoperans Orkester betont deutlich die moderne Schärfe der Partitur. Die gleichsam sprechenden Holzbläser sind ein Ereignis. Und Göteborg ist mal wieder eine Reise wert.
Göteborgs Operan
Strauss: Elektra
Olaf Henzold (Leitung), Stephen Langridge (Regie), Conor Murphy (Ausstattung), Sabine Hogrefe, Katarina Karnéus, Carolina Sandgren, Daniel Hällström, Tomas Lind, Mats Almgren