Beethovens „Fidelio“ und sein C-Dur-knallendes Finale namenloser Freude sind berühmt berüchtigt – beim Publikum beliebt, von den Regisseuren ob des utopischen Überschusses gefürchtet und von Intendanten gescheut, da es derzeit kaum einen jugendlich-dramatischen Sopran zu geben scheint, der alle Facetten jenes mutigen Weibes der Zukunft vokal erfüllen kann, das einem Richard Wagner später zur Blaupause für die starken emanzipierten Frauengestalten im „Ring des Nibelungen“ oder in „Tristan und Isolde“ dienen wird. Und wie soll man diesem Schmerzenskind von Befreiungsoper nur szenisch gerecht werden? In dem Biedermeierbürgerlichkeit auf revolutionären Geist, deutsches Singspiel aufs spätere Musikdrama treffen?
Fassungsfragen und Antworten
Zum Abschluss der Dresdner Musikfestspiele 2017 gab dessen glückvoller Intendant Jan Vogler eine Antwort in Auftrag, die so fesselnd wie faszinierend ausfiel. Sein Cello nahm der Wahl-New-Yorker dabei nicht selbst in die Hand, er engagierte freilich ein Team von Überzeugungstätern, das im frisch wiedereröffneten Kulturpalast des Elbflorenz all die Fragezeichen hinter Fassungen, Besetzungsprobleme und Interpretationsmodelle in Ausrufezeichen verwandelte. Die Grundentscheidung dabei: Nicht der umgearbeitete spätere „Fidelio“, nein, Beethovens Urfassung sollte hier erklingen, jene die junge Heldin unmissverständlich auch als Frau feiernde „Leonore“.
Die Dialoge wurden dazu gestrichen, zur Verbindung der Musiknummern bezog Vogler junge Künstlerinnen und Künstler des Projekts „Bohème 2020“ ein, die sparten- und kulturenübergreifend nach neuen Wegen zu Beethoven suchen. Auch wenn Sound-Design, Projektionen und tänzerische Einlagen das Festivalmotto „Licht“ etwas weniger beherzt als erwartet reflektierten, geriet das Festivalfinale zum 40. Jubiläum musikalisch sensationell inspiriert und wurde zum beherzten Aufruf, die stürmisch drängende „Leonore“ nunmehr als echte Alternative zum „Fidelio“ zu entdecken.
Miriam Clarks entgrenzend himmelsstürmende Koloraturen und stratosphärische Sopransprünge
Wer die Arien und Ensembles des „Fidelio“ im Ohr hat, der horcht an diesem Abend in fast jedem Takt auf, stolpert ständig über kleine und große Fassungsunterschiede in Text und Musik, findet ein bislang ungehörtes, innig blühendes Duett zwischen dem potenziellen Paar aus Leonore und Marzelinne und staunt über stimmliche Anforderungen an die Titelpartie, die hier auf einmal in ihrer sattsam bekannten Arie geradezu entgrenzend himmelsstürmende Koloraturen singen und im Duett mit ihrem Gatten Florestan stratosphärische Sopransprünge absolvieren darf.
Beethoven, der sich weder im Schluss-Satz seiner 9. Sinfonie noch in seiner einzigen Oper allzu sehr um das sängerische Machbare scherte, verlangt seiner ersten Leonore schier Unfassliches ab. Miriam Clark singt die Titelpartie mit dem fraulich dunklen Jubelton einer jungen Jessye Norman, wandelt in ihrer Rollenanlage traumwandlerisch zwischen Königin der Nacht und Agathe, Mozart und von Weber, Kopfstimme und Bruststimme. In der Mimik der attraktiven Deutsch-Amerikanerin zeichnet sich jede Regung das Gefühlslebens dieser großen Liebenden ab, sie spürt jeder Nuance in Text und Musik wissend nach, findet zu einem Jubelton, der schon auf Wagners Sieglinde vorausweist, welche die auch technisch enorm versierte Sopranistin zweifelsohne in den kommenden Jahren ihr Repertoire aufnehmen wird. Wer diese Ausnahmesängerin erleben will, fährt am besten nach Mannheim, wo sie als Ensemblemitglied als Aida und bald auch als Norma glänzt.
Ein Traumensemble für Beethovens Schmerzenskind
Die sängerische Erfüllung ist indes nicht auf die Titelpartie beschränkt. Christina Gansch erfüllt und erfühlt die Marzelline mit dem angenehm unsoubrettigen Liebreiz einer echten Lyrischen und ihrem betörenden Goldkehlchen. Martin Mitterrutzner stattet den Jaquino mit ganz aus dem feinen Wortverständnis abgeleiteten Tenor-Feinsinn aus. Peter Rose gibt den Rocco mit hintergründig doppelbödiger Bass-Macht, Michael Kupfer-Radecky den Pizarro mit nie forcierter Bariton-Bosheit, Eric Cutler den Florestan mit seiner hier sehr rezitativisch geprägten Arie „Gott, welch Dunkel hier“ mit imposantem Heldenglanz. Eine wuchtige Wonne und Entdeckung am Rande: Jung-Bassist Tareq Nazmi als Don Fernando.
Ivor Boltons freudvoll feuriges Musizieren mit dem Festspielorchester
Das größte Ereignis neben Miriam Clarks Leonore und dem wortklar edlen Balthasar-Neumann-Chor aber ist Ivor Bolton, der dem aus internationalen Instrumentalexperten der Historischen Aufführungspraxis zusammengesetzten Festspielorchester einen Beethoven-Geist einhaucht, der das Radikale, Kompromisslose und Raue dieser Urfassung schärft und dabei die hellwach spritzige Artikulation dennoch mit singender Phrasierung zu versöhnen weiß. Welch› ein freudvoll feuriges Musizieren entzündet Bolton da – temporeich, doch nicht verhetzt, sehnig gespannt und filigran, doch nie trocken.
Der Kulturpalast in seiner transparenten und dabei samtigen, weil mit gesundem Nachhall konzipierten Akustik transportiert die Schönheiten dieser Interpretation ideal, warm und gefühlsecht. Genial gerät das Ernst Blochs utopisches Potenzial der Musik feiernde „Oh Gott, welch ein Augenblick“. In retardierender Dehnung lässt Ivor Bolton hier die Vision von Humanität und Gattenliebe gleichsam dialektisch aufscheinen. Ja, „Licht“ lautete das Motto der mit der „Leonore“ ausklingenden Dresdner Musikfestspiele 2017: Glanzvoller und glaubwürdiger konnte es kaum Wirklichkeit werden.
Dresdner Musikfestspiele
Beethoven: Leonore
Ausführende: Ivor Bolton (Leitung), Miriam Clark, Christina Gansch, Martin Mitterrutzner, Peter Rose, Michael Kupfer-Radecky, Eric Cutler, Tareq Nazmi, Balthasar-Neumann-Chor, Dresdner Festspielorchester