In ihrem sexuellen Begehren allzu schillernde, maßlose, unschuldig schuldig werdende Kindfrauen waren sein Spezialgebiet. Vielleicht weil der britische Großdichter Oscar Wilde seinerseits schwul war? Zwei von seinen schönsten und schlimmsten Geschöpfen haben es zu besonderen Opernehren gebracht: die Salome in der Vertonung von Richard Strauss und die Donna Clara in „Die Geburtstag der Infantin“, der Alexander von Zemlinsky in „Der Zwerg“ ein musiktheatralisches Denkmal setzte.
Magische Musikmischungen im Leisen, Ungefähren und Angedeuteten
In der Neuinszenierung an der Deutschen Oper Berlin sind nun nicht nur die heimlichen Verwandtschaftsbeziehungen der beiden Damen sichtbar, sondern auch die kompositorische Nähe zwischen Richard Strauss und Zemlinsky deutlich hörbar. Denn der musikalische Hausherr Donald Runnicles ist in diesem Repertoire des expressionistischen Glühens so sehr in seinem Element wie sein superbes Orchester. Das absolute lukullische Schwelgen und orchestrale Ausrasten dieser schamlosen Ausdrucksmusik geht nur zur Beginn der Premiere ein wenig zu Lasten der Ensemble- und Chorszenen. Im Laufe des Abends stimmt die Balance zwischen Graben und Bühne freilich immer besser. Und es ereignen sich diese magischen Musikmischungen gerade im Leisen, Ungefähren und Angedeuteten.
Davon wünschte man sich dennoch mehr: Läßt sich die expressionistische Deutlichkeit nicht durch gleichsam impressionistische Schwebezustände noch weiter verfeinern? Lassen sich nicht noch mehr Geheimnisse einbauen, wo es in allzu konkreter Sinnlichkeit und sexueller Unzweideutigkeit aus dem wissenden Orchester strömt?
Von der unmöglichen Liebe
Wenn es denn auch einen (ebenso kleinen) Einwand gegen die Inszenierung des kongenialen Regie-Duos Tobias Kratzer und Rainer Sellmaier gibt, dann wäre es ein ähnlicher: Denn die psychologische Ausdeutung der unmöglichen Liebe der Prinzessin und des Zwergs gerät derart plausibel, ist so genau ausgearbeitet und ausgeleuchtet, dabei auf die biographische Kontextualisierung des Komponisten bezogen, dass auf einmal ganz viel Licht ins Märchendunkel strahlt, aber doch das Geheimnisvolle dieser zwischen Anziehung und Abstoßung krass changierenden Beziehung auf der Strecke bleibt.
Dabei macht der nicht immer ungefährliche Rückbezug des Werks zu seinem Schöpfer in diesem Falle mindestens so viel Sinn wie bei den jüngsten Regiekonzepten zweier bei der Premiere persönlich anwesender Regie-Stars: So hat Barrie Kosky in seiner Bayreuther Sicht auf „Die Meistersinger von Nürnberg“ das Thema „Wagner und die Juden“, Stefan Herheim in „Pique Dame“ am Londoner Royal Opera House „Tschaikowsky und die Männerliebe“ ins Zentrum ihrer Deutungen gestellt.
Hier wird nun ein frühes prägendes Kapitel im Leben des Komponisten in den Blick genommen: die Liebe zwischen der schönen, allseits begehrten Alma Schindler und dem als hässlich geltenden und für einen Mann zu klein geratenen Alexander von Zemlinsky, der Mahlers späterer Gattin mit Erfolg Kompositionsunterricht erteilte. Ganz wie bei Kosky und Herheim erzählt Kratzer diesen Kontext als Vorgeschichte, wozu ihm – angesichts der Kürze des Einakters – Arnold Schönbergs an den Anfang gestellte „Begleitmusik zu einer Lichtspielscene“ dient.
Die Kränkung des kleinen Mannes und großen Komponisten
In einem großbürgerlichen Wohnzimmer erteilt also Alexander der Alma seine Lektionen. Zunächst weicht er scheu zurück vor den Avancen seiner Schülerin, dann kommt es doch zum Kuss am Klavier. Als er nun auf den Geschmack und seine Hemmungen ablegt, stößt Alma ihn brüsk zurück – und die Kränkung des kleinen Mannes und großen Komponisten sitzt zeitlebens tief. Das Programmheft klärt auf: Kurz nach der heftigen Affäre ehelicht Alma Gustav Mahler.
In der Berliner Inszenierung beginnt an diesem Punkt Zemlinskys „Der Zwerg“ als handwerklich virtuos in die Gegenwart gezogene Geschichte eines Glitzergirls der viel besseren Gesellschaft, die zum 18. Geburtstag neben erwartbaren Nettigkeiten auch einen lebenden Zwerg zum Geschenk erhält. Mit dem armen Geschöpf macht das Mädel, was sie darf und soll: sie spielt mit ihm.
Ideales Künstlersein und reales Menschsein
Elena Tsallagova unwissend-unbedarfte Kindfrau hat durchaus echtes Interesse am neuen Spielzeug. Das kleinwüchsige Präsent singt denn auch derart betörend tenoral, dass er ihr als Künstler sofort nahekommt. Und eines der erotisch aufregendsten Duette der Operngeschichte nimmt seinen Lauf.
Kratzer wählt dabei einen gewagten Kunstgriff. Der Tenor David Butt Philip wird durch den kleinwüchsigen Schauspieler Mick Morris Mehnert gedoppelt. Die schizophrene Spaltung der Künstlerfigur wird so unmittelbar augenfällig: die Selbstwahrnehmung des Zwergs als „großer“ Künstler und seine Fremdwahrnehmung als scheußliche Missgeburt. Ist das „Schönste scheußlich“, wie es im Libretto von Georg C. Klaren heißt?
Hellsichtig wirkt die Einsicht des Regisseurs, dass sich die Prinzessin zunächst dem ungewöhnlich kleinen Wesen zuwendet, als dieses dann jedoch seinen Zaubergesang verströmt, widmet sie ihre Aufmerksamkeit dem attraktiven, groß gewachsenen Sänger der Partie. Jetzt scheint sie die gesellschaftlich konnotierte Hässlichkeit des kleinen Mannes gar nicht mehr wahrzunehmen. Ein aufregendes Spiel mit wechselnden Wahrnehmungen, Perspektiven, Spiegelungen beginnt, das Kratzer mit unaufgeregter Präzision in Szene setzt. Am Ende bringt der „schöne“ Tenor seine „häßliche“ Hälfte eigenhändig um, doch die Abspaltung des idealen Künstlerseins vom realen Menschsein funktioniert nicht. Als der Zwerg sein wahres Wesen erkennt, muss er sterben.
Der Tenor auf dem Weg zum Lohengrin, Kratzer und Sellmaier auf dem Weg nach Bayreuth
Mit ihrem liebreizend lyrischen Melisanden-Sopran und ihrem grazilen Äußeren ist Elena Tsallagova die perfekte Prinzessinnen-Kindfrau. Und der doppelte Zwerg bringt uns nachhaltig zum Nachdenken über das Anderssein in einer immer uniformer werdenden Konsum- und Mediengesellschaft von angeblichen Individualisten. Das liegt gleichermaßen am (auf bestem Weg zu Wagners Lohengrin befindlichen) gleißend-geschmeidigen Tenor von David Butt Philip und dem klug wendigen Mick Morris Mehnert als Zwerg-Darsteller, der hier eben nicht als behindert ausgestellt wird, sondern dem Abend seine ernst tragische Fallhöhe verschafft.
Jetzt kann sie losgehen: die Auseinandersetzung von Tobias Kratzer und Rainer Sellmaier mit einem anderen scheiternden Künstler. Nach dem erfolgreichen Probelauf am Theater Bremen stellt das Team ab 25. Juli seine Sicht auf Wagners „Tannhäuser“ bei den Bayreuther Festspielen zur Diskussion.
Deutsche Oper Berlin
Zemlinsky: Der Zwerg
Donald Runnicles (Leitung), Tobias Kratzer (Regie), Rainer Sellmaier (Bühne & Kostüme), Stefan Woinke (Licht), Elena Tsallagova, Emily Magee, David Butt Philip, Mick Morris Mehnert, Philipp Jekal, Adelle Eslinger, Evgeny Nikiforov, Orchester und Damen-Chor der Deutschen Oper Berlin
Erhalten Sie einen Einblick in die Proben zu Zemlinskys Oper „Der Zwerg“: