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Opern-Kritik: Das Meininger Theater: Die Meistersinger von Nürnberg

Am Schluss marschieren die Massen

(Meiningen, 7.4.2017) Intendant Ansgar Haag inszeniert ein scharf polarisierendes Meisterstück, GMD Philippe Bach holt Spielopern-Reichtum aus der Partitur

vonRoland H. Dippel,

Die letzten „Meistersinger“ in der herzoglichen Theaterstadt Meiningen gab es in den Nachwende-Jahren als Inszenierung des bayerischen Theaterkönigs August Everding. Jetzt, kurz nach Erfurt und Weimar, findet man einen Anlass, um dieses Werk höchst respektabel allein mit eigener Kraft zu stemmen: Der Opernchor, als professionelles Ensemble in der sowjetischen Besatzungszone 1946 gegründet, feiert sein 70jähriges Jubiläum. Das war damals ein maßgeblicher Kick für das junge Musiktheater in der früheren Residenzstadt Meinigen, wo Georg II. die Hofkapelle und das Schauspiel pflegte, nicht aber die Oper. Zur Premiere spendete das einheimische wie in Scharen aus der Rhön-Region und Franken angereiste Stammpublikum jetzt stürmischen Applaus und Buhs für ein Ende mit Schrecken: Die umstrittenen Kunstthesen Richard Wagners werden auf der Bühne zum rechtspopulistischen Kampfruf. Bitter.

Kriegsleid und Rechtspopulismus

Intendant Ansgar Haag verspricht für seine Regie eine Zeitreise durch die letzten hundert Jahre an, beginnend 1913. Nach dem Vorspiel folgt im ersten Aufzug nach der Kriegstrauer 1918 die Weimarer Republik, doch dann lassen Bernd-Dieter Müller und Annette Zepperitz die Handlung in den 1960er Jahren stecken und springen erst zum Schluss in die unmittelbare Gegenwart.

Szenenbild aus "Die Meistersinger von Nürnberg"
Ondrej Šaling (Walther von Stolzing), m.) und Chor © foto ed

Der Handwerksbetrieb des Poeten Hans Sachs erhält eine Glasfront als trendigen Aufputz zwischen grauen Häuserfronten, aber Pogners Schmuckladen ist schon nach der rauflustigen Johannisnacht passé. Wahrscheinlich sind die Straßen von Meiningen zu den Vorstellungen wie leer gefegt, weil da alles auf die Bühne drängt: Chor und Extrachor, die Meininger Kantorei, der Chor des Evangelischen Gymnasiums, Statisterie und Bürgerbühne ballen sich. Sie wiederholen grölend Hans Sachsens Appell zum Respekt für die „deutschen Meister“, zum Marschschritt wehen „Ausländer-raus!“-Banner. Dagegen sind die Meistersinger wehr- und machtlos. Die Polizei tut nichts, wenn Hans Sachs in den letzten Takten zusammenbricht: Herzversagen oder Attentat? Man ertappt man sich bei dem Wunsch, Chorleiter Martin Wettges hätte mit seinen Scharen ein weniger scharf polarisierendes Meisterstück ausgewählt.

Das Theater ist einer der wichtigsten Arbeitgeber der Stadt

Es war klar, dass diese Buhs nicht auf die stellenweise etwas matte Personenführung gerichtet waren, sondern tatsächlich auf die Sichtweise dieses fatalen Endes. Die Schlussworte des Hans Sachs und damit Richard Wagners fordern auch dazu auf, in Krisenzeiten die integrative Kraft deutscher Kultur zu bewahren. Die Inszenierung balanciert auf dem riskant schmalen Grat, vereinfachende Missverständnisse aufzurollen: Die Massen missverstehen die Schlussansprache als Ruf zu Nationalismus und Fremdenhass. Wagners mehrschichtiges Anliegen wird hier zur in Frage gestellten Hassparole und schlägt damit einen Bogen zurück zur fatalen Wirkungsgeschichte des Werks im Nationalsozialismus.

Davor gibt es jedoch auch Genreszenen aus dem Bilderbuch der Philanthropen und dazwischen immer wieder Risslinien. Ganz deutlich erlebt man, wie Figuren mit Migranten-Hintergrund ankommen. Beim Kleidertausch ziehen Evchen und Magdalene bunte Tücher über den Kopf. Offenbar stammen sie aus Familien von Umsiedlern aus dem Osten, die zum Vorspiel in der schlimmsten Kriegstrauer 1918 ankommen und sich integrieren. Beim Aufzug der Zünfte sind – deutlich zu sehen – auch neue Mitbürger als Ehemänner und junge Väter dabei. Mit dem Südafrikaner Siyabonga Maqungo als David flirten und knutschen die Mädchen aus Fürth, seine Magdalene eifersüchtelt deshalb nicht: Carolina Krogius ist stimmlich und darstellerisch eine junge und muntere Liebhaberin mit Herz.

Szenenbild aus "Die Meistersinger von Nürnberg"
v.l.: Camila Ribero-Souza (Eva), Ondrej Šaling (Walther von Stolzing), Carolina Krogius (Magdalena), Siyabonga Maqungo (David) und Dae-Hee Shin (Hans Sachs)

Auch wenn der Schluss eine Wunde reißt, die Produktion versteht sich als Aufruf zum Schutz immaterieller Kulturgüter. Am Rand des Bundeslandes mit der größten Kulturdichte, in einer Stadt mit gerade 20.000 Einwohnern spielt das Theater Meiningen, größter Arbeitgeber mit Außenwirkung am Ort, eine der aufwändigsten Opern überhaupt. Nicht mit letzter Kraft, sondern im Vollbesitz künstlerischer Ressourcen und mit einem glänzenden Sängerensemble aus den eigenen Reihen, wo sonst oft der Gästeetat explodiert.

Glänzendes individuelles Sängerensemble

Dabei sind es in allen Partien Rollendebütanten. Sie zeigen in internationaler Besetzung ein phonetisch souveränes Deutsch, wie es an großen Häusern und überhaupt Seltenheitswert hat. Es lässt sich kaum gebührend würdigen: Die Sängerinnen und Sänger machen Richard Wagners komplizierte Kunstdiskurse zu ihrer eigenen Sache. Hans Sachs zeigt sich nachdenklich und viel bescheidener, als sein Darsteller Dae-Hee Shin es nach seinem lyrischen und nur in der Begrüßungsansprache kurz Grenzen streifende Porträt sein müsste. Es kommt zu ungewohnten Konstellationen. Ondrej Šaling ist ein schlanker, blonder und wirklich junger Stolzing-Exot, der Licht und sogar nazarenische Wärme in die blässlich gewordene Meistersinger-Welt bringt. Er hat die Kondition für die Riesenpartie, wird beim tückischen Preislied immer besser. Sein wenig sinnliches Material bildet zur stimmlichen Wärme Siyabonga Maqungos einen sinnfälligen Kontrapunkt. Nach ähnlicher Aufwertung in Erfurt und Weimar erlebt man auch in Meiningen ein anfangs sehr selbstbewusstes Evchen, die später – vokal und szenisch intensiv dargestellt von Camila Ribero-Souzas – im existenziellen Gefühlsüberschwang zwischen Sachs und Stolzing aufgeht. Wie sie sich im Getümmel der Festwiese treiben lässt und die Polizisten umhalst, verrät das viel über eine tiefe Verstörung.

Szenenbild aus "Die Meistersinger von Nürnberg"
Szenen auf der Festwiese © foto ed

Aber wenn am Ende die Massen losmarschieren, sind das Liebespaar, der Geselle David und Beckmesser längst weg: Stephanos Tsirakoglou hat prächtiges Baritonmaterial mit einem noch prächtigeren hohen A. Wie dieser Beckmesser seine Tasche zurechtrückt, seine Haarsträhnen zupft, entzückt den Klängen der Stahlharfe lauscht und im Schlussakkord nach der Prügelfuge seinen Schnürsenkel zerreißt, steht er immer in Zentrum des Geschehens und ist eine Klasse für sich. Das Hasspotenzial zwischen ihm und Sachs: Pures Dynamit. Über Wagners Handlung hinaus erzählen alle Persönlichkeiten dieses wunderbaren Ensembles zusammen eine spannende Geschichte aus der unmittelbaren Gegenwart.

Hochmusikalische Kampfansage gegen den Klangballast

Die Meininger Hofkapelle braucht im ersten Akt noch etwas, um zum ganz eigenen Gepräge dieser „Meistersinger“ zu finden. GMD Philippe Bach verabschiedet sich vom polyphonisch breiten Klangbild, holt Spielopern-Farben und -Reichtum aus der Partitur. Aufmerksame Hörer können hier eine hochmusikalische Kampfansage gegen Klangballast und allzu simple Vereinfachungen erleben. Die Diskussionen der Meistersinger-Versammlung kommen mit einer Leichtigkeit wie lange nicht; so haben Ernst Garstenauer Pogner und Marián Krejčíks besonders stimmkräftiger Kothner noch mehr autoritäres Gewicht.

Zum Höhepunkt des Abends wird – trotz Chorjubiläum – die Schusterstube: Sachs und Walter erfinden das Preislied beim Frühstück mit Kaffee im Porzellankännchen. Und es ist tatsächlich eine flüchtige Inspiration des Augenblicks, als die das Preislied aus dem Orchestergraben luftig aufsteigt und immer mehr melodische Gestalt annimmt. Nicht, weil es so in der Partitur steht, sondern als Feier von Kreativität und Freude an der Kunst.

So enthalten die Meininger „Meistersinger“ ein Bekenntnis für die integrierenden Kräfte von Kultur, zeigen deren Gefährdung und Gefahrenpotenziale. Deshalb haben sie neben dem Eventfaktor und einigen Längen eine starke menschliche Dimension.

Das Meininger Theater
Wagner: Die Meistersinger von Nürnberg

Ausführende: GMD Philippe Bach (Leitung), Ansgar Haag (Regie), Bernd-Dieter Müller (Bühne), Annette Zepperitz (Kostüme), Martin Wettges (Chor), Zenta Haerter (Choreografie), Dae-Hee Shin (Hans Sachs), Ernst Garstenauer (Veit Pogner), Stephanos Tsirakoglou (Sixtus Beckmesser), Marián Krejčík (Fritz Kothner), Ondrej Šaling (Walther von Stolzing), Siyabonga Maqungo (David), Camila Ribero-Souza (Eva), Carolina Krogius (Magdalena), Lars Kretzer (Nachtwächter), Meininger Hofkapelle

Termine: 7. (Premiere), 16. & 22.4., 6.5., 11.6.

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