Welche Lebenslüge ist die größte? Gibt es ein richtiges Leben im falschen? Hat wenigstens eines der drei Paare die Chance auf eine gemeinsame Zukunft? John Neumeier wagt sich an Tolstoi, an den „größten Gesellschaftsroman der Weltliteratur“, als den Thomas Mann einst „Anna Karenina“ identifizierte. Kann eine solche choreografische Übersetzung gelingen? Lässt sich bei aller dringend nötigen Verdichtung des Stoffs dessen Essenz tänzerisch freilegen? Oder kann selbst ein Meister wie Neumeier bei einem solchen Unterfangen nur auf höchstem Niveau scheitern?
Die Frau als schönste Zierde des Politikers
Der Anfang des langen Abends ist vielversprechend. Denn Neumeier, der Ästhet, der Freund schöner Bilder, der feine Psychologe, er beginnt mit einer Exposition, die überdeutlich, ja auch plakativ zeigt, dass die großen Lieben dieses riesigen Epos letztlich an den Schranken des Gesellschaftlichen scheitern. Alexej Karenin (ein fies berechnender Bürokrat: Ivan Urban) ist ein Politiker, dessen Wahlkampf in St. Petersburg nach der sehr amerikanischen Methode des Mr. Trump abläuft.
Das öffentlich vorgezeigte private Glück mit Karenins ätherisch zierlicher Gattin Anna, die Anna Laudere tanztechnisch edel, aber für die Titelpartie denn doch allzu ausstrahlungsweiß gibt, dient der Zierde der Politik, Söhnchen Serjoscha, der noch mit Puppen spielt, wird darin passend einbezogen. Kein Wunder angesichts der Instrumentalisierung ihrer Rolle, dass Frau Anna aus diesem System ausbrechen will. Anna geht fremd. Auf der Suche nach Selbstverwirklichung trifft sie die selbstbestimmte Sportskanone Wronski, den Edvin Revazov als prachtvoll gebautes Mannsbild darstellt.
Plausibel leitet Neumeier die psychologischen Verwicklungen aus dem politischen Setting ab. Seine Kunst, die vielfältigen Pas de Deux zu bauen, ist immer noch so bestechend wie in den jüngeren Jahren des Hamburger Ballett-Chefs, sein handwerkliches Können (Neumeier ist hier erneut sein eigener Ausstatter), die Szenen- und Ortswechsel in sekundenschnellen Schnitten ineinander gleiten zu lassen, gelingen schlichtweg traumwandlerisch.
Zeitlose Modernisierung der Geschichte
Die Einführung der beiden anderen Paare bringt Überraschungen. Neumeiers angenehme, nie anbiedernde Verlegung der Geschichte vom zaristischen Russland in die Gegenwart gleicht einer zeitlosen Modernisierung, bedarf allerdings auch der deutlichen Umwertung der Charaktere vom Roman ins Ballett. Zumal der reiche Gutsbesitzer Lewin wird in Gestalt von Aleix Martínez überdeutlich zum infantilen Cowboy umgemünzt, das sehr junge Mädchen Kitty (entzückend naiv: Emilie Mazon) verguckt sich ihn. Der Lobpreis eines freien Lebens auf dem Lande gerät dabei allzu idyllisch. Wer da an die reale Soap „Bauer sucht Frau“ denkt, liegt zumindest nicht ganz falsch.
„Moonshadow“ von Cat Stevens liefert den Soundtrack zu diesem Liebestraum, der freilich auch seine Schattenseiten hat. Eine der dichtesten Szenen des Abends entsteht, als Kitty später gänzlich verstört einen Nervenzusammenbruch im Sanatorium erleidet: In der tänzerischen Reduktion liegt hier einer der wahrhaftigsten Momente eines sonst zumal in den Gruppenarrangements gewohnt hochfliegenden Balletts.
Näher am Romanoriginal verortet Neumeier das hohe Moskauer Paar aus Fürst Stiwa und Dolly. Patricia Friza zeigt großartig eine enorm starke, fraulich ernste Dolly, die sich vom chronisch untreuen Gatten, getanzt vom sehr fesch virilen Dario Franconi, angesichts der gemeinsamen Kinder trotz großer Zweifel doch nicht scheiden lässt. So gekonnt Neumeier die drei in ihrem Unglück so unterschiedlichen Paare einführt, so problematisch spinnt er die Geschichte indes fort, die im Wechsel von Real- und Traumszenen voranschreitet. Um den finalen Selbstmord der Titelfigur frühzeitig zu beglaubigen, imaginiert Anna in wiederkehrenden Albträumen einen bedrohlichen Bahnarbeiter, der bei ihrer ersten Begegnung mit Graf Wronski verunglückt war.
Gleich einem Running Gag des Todes spaziert nun Karen Azatyan als „ein Muschik“ durch die Szene, in Annas finalem Albtraum mutieren gar alle männlichen Hauptfiguren zu dem düsteren Wesen, indem sie in dessen zerrissenem orangenen Overall schlüpfen.
Neumeiers Neigung zur polierten Oberfläche
Letztlich erfahren wir aber zu wenig über das Innenleben der Anna Karenina, über ihre Hoffnungen und Sehnsüchte, die Beweggründe ihres Handelns und die Abgründe ihrer Seele. Das mag teilweise an der eher farblosen Besetzung liegen. Aber noch mehr an Neumeiers Neigung zur schön polierten Oberfläche und seine Weigerung zur ironischen Brechung oder deutlichen Schärfung der Konflikte. Die musikalische Kontrastdynamik aus Tschaikowsky, Schnittke und Cat Stevens hätte dazu die rechte Inspiration geben können. Doch der Ballettchef nutzt das Potenzial nur wenig. Wenn Anna zwischen ihren beiden Männern steht, bleibt die Eifersucht der Herren in ihrer allzu ähnlichen Bewegungssprache ungewöhnlich milde, fast freundschaftlich. Die deutliche politische Exposition des Abends bleibt gleich einem offenen Ende im Ansatz stecken.
Zentraler Stein des Anstoßes für viele Premierengäste aber war die Bebilderung von Cat Stevens‘ „Morning has broken“, zu dem Neumeier erst ein Sensen-Ballett auftreten, dann Kitty auf einem Traktor zu ihrem liebsten Lewin einfähren lässt. Meint der Meisterchoreograph diesem Lobpreis eines „Zurück zur Natur“ ernst? Oder inszeniert er hier mit ironischem Unterton? Das konstruktiv kritische Korrektiv eines Dramaturgen wäre in solchen Momenten allzu willkommen.
Staatsoper Hamburg
Neumeier: Anna Karenina
Ausführende: Simon Hewett (Leitung), John Neumeier (Choreografie, Bühnenbild, Licht und Kostüme), Anna Laudere, Ivan Urban, Edvin Revazov, Dario Franconi, Patricia Friza, Emilie Mazon, Aleix Martínez, Karen Azatyan, Philharmoniker Hamburg