Sanft wiegt sich das Schilf im Sommerwind, wir lassen den Blick weit schweifen, wandeln in den Pausen der Premiere mit einem Glas Weißwein durch die Moorwiesen vor Snape Maltings, jener einstigen Mälzerei, in der im 19. Jahrhundert Gerste verarbeitet wurde, damit der gehörige Bierdurst der Briten gestillt werden konnte. Nach dem Ende der industriellen Nutzung des Gebäudes erwarb Benjamin Britten das Anwesen und weihte es vor exakt 50 Jahren in Anwesenheit der englischen Königin Elisabeth als Konzertsaal ein.
Jahrzehnte bevor in Deutschland mit den Umwidmungen einstiger Kathedralen der Industrie, wie Kampnagel in Hamburg oder den Spielstätten der Ruhrtriennale, in Orte der Kultur begonnen wurde, war der größte britische Komponist des 20. Jahrhunderts ein Pionier der Neudefinition einer ganzen Gegend: Er musikalisierte die Gegend, aus der er stammte und die er so liebte. 50 Jahre später feiert das von ihm und seinem Partner Peter Pears ins Leben gerufene Aldeburgh Festival das Jubiläum der herrlichen Konzertscheune, die bis heute mit ihrer akustikfeinen Mischung aus Backstein und Holz besticht, mit einer Neuinszenierung eines seiner größten Opern-Meisterwerke: der Shakespeare-Vertonung von „A Midsummer Night’s Dream“.
Wir hören im Saal, was wir draußen als Schauspiel der Natur sehen
Man muss diese Oper genau hier erleben. Nicht nur, weil Netia Jones eine vor Fantasie sprühende Inszenierung auf die überschaubare Bühne bringt und Ryan Wigglesworth mit dem Festival Orchestra jede Nuance der unerhört vielschichtigen Partitur auf ideale Weise auslotet. Sondern eben auch, weil man hier im Umfeld ihrer Entstehung die grandiose Partitur auf ganz intuitive Weise neu und ganzheitlich erspüren und verstehen kann.
Das liegt, ganz einfach gesagt, daran, dass wir in der Snape Maltings Concert Hall all das hören, was wir draußen beim Spaziergang im paradiesisch anmutenden Umland sehen – und als audiovisuell vielsagende Sprache der Natur auf andere Weise dort auch hören können. In Brittens die Macht des Meeres feierndem „Peter Grimes“ liegt die musikalische Imagination der „Sea Interludes“ klar auf der Hand. Doch gerade auch der filigran durchwirkte „Sommernachtstraum“ wird jetzt in Suffolk zu einer heimlichen Hymne auf die Heimat Benjamin Brittens.
Fantasiereiche Projektionen lassen uns in die Musik noch tiefer hineinlauschen
Es ist eben kein Klischee, dass der Künstler, Pazifist und seinen Lebenspartner so innig liebende Homosexuelle durch Land und Leute so sehr geprägt wurde wie kaum ein anderer Komponist. Netia Jones macht das in ihrer an Projektionen reichen Inszenierungen sehr deutlich, ohne freilich in die Falle von Kitsch zu tappen oder der Gefahr von dem filmischen Mickey-Mousing abgeguckten Billig-Verdoppelungen zu erliegen. Enorm geschmackvoll balanciert die britische Regisseurin die Bild-Ebenen zu Personenregie und Musik aus, sodass die Einbildungskraft des Publikums durch die Schnitttechnik der Projektionen keineswegs erschlagen wird, sondern lediglich Anreize erhält, in die Musik noch tiefer hineinzulauschen.
Idyllische Naturbilder wie der Tau, der sich sanft auf Blütenblätter und zarte Spinnweben legt, ist geschickt mit „Modern Times“-Anspielungen auf das hier einst eingeläutete Industriezeitalter und Schattenspielen verknüpft, die der Ära des Stummfilms huldigen. Schließlich wirkten in jenen Zeiten Handwerker aller Arten in Snape Maltings, denen die Regisseurin in den die Welt der Feen und Liebenden wunderbar witzig kontrastierenden Szenen der werktätigen „Workmen“ und „Craftsmen“ ihre den Ort der Aufführung und den Ort der Entstehung der Oper reflektierende Referenz erweist. Wer dabei nebenbei auch mal an die kuriosen Typen von Richard Wagners „Meistersingern“ denkt, macht nichts falsch, die Parallelen zwischen zwei der größten und feinsten Komödien der Operngeschichte sind offensichtlich.
Wunderbares junges Ensemble träumt von der Liebe – in einem Zeitalter vor dem Sündenfall
Die großteils jungen Sängerinnen und Sänger – mit hierzulande noch kaum bekannten englischen Namen – dieser grandiosen Eröffnungspremiere der Jubiläumsfestspiele setzen das Konzept mit gleichermaßen spielerischer wie vokaler Emphase um. All die erotischen Eifersüchteleien und Paarprobleme, all die mitunter auch deftig sexuellen Verwicklungen des Stücks interpretiert Netia Jones ohne Zeigefinger-Subtexte als im reinen Wortsinn natürliche Vorgänge. Wie in einem Zeitalter vor dem Sündenfall scheinen die Liebenden als Bienchen von Blüte zu Blüte zu springen, um sich an deren Nektar saugend zu laben – Gut und Böse gab’s da wohl noch nicht, bis dann aber doch in den Projektionen eine Schlange davon kündet, dass derlei Liebesspiele doch auch ihre Risiken bergen.
Als am Ende nun nicht nur auf der Bühne ein Mond aufzieht, sondern auch ganz real am gestirnten Himmel über der Festspielhalle, ist der Sommernachtstraum perfekt. Dazu erweisen sich als von der Liebe Träumende bei diesem mindestens doppelten Happy End so herausragende Sänger wie der anschmiegsame Oberon-Counter des Iestyn Davies, die dramatisch aufgeladene Koloraturen feuernde Tytania der Sophie Bevan, die lyrisch leuchtende Helena der Eleanor Dennis, der tolle Lysander-Tenor des Nick Pritchard oder der enorme und fürwahr echte Bass des Bottom, den Matthew Rose ähnlich überwältigend gibt wie Schauspieler Jack Lansbury den nicht weniger als akrobatische Purzelbäume schlagenden Puck.
Aldeburgh Festival
Britten: A Midsummer Night’s Dream
Ryan Wigglesworth (Leitung), Netia Jones (Regie, Bühne, Kostüme & Projektionen), Ian Scott (Licht), Iestyn Davies, Sophie Bevan, Jack Lansbury, Clive Bayley, Leah-Marian Jones, Nick Pritchard, George Humphreys, Clare Presland, Eleanor Dennis, Matthew Rose, Andrew Shore, Lawrence Wiliford, Sion Goronway, Nicholas Sharratt, Simon Butteriss, Aldeburgh Festival Orchestra