Der bedeutendste Opernintendant der letzten drei Jahrzehnte hat mit Verve eine überaus provokante These vertreten. Die Anzahl der wahren Meisterwerke sei im 20. Jahrhundert wesentlich höher als jene des 19. Jahrhunderts, „mit dem Unterschied, dass diese Meisterwerke trotzdem nur sehr schwer Eingang ins Repertoire finden.“ Und Gerard Mortier folgerte: „Die Fortsetzung einer Spielplanpolitik, die sich im Wesentlichen dem 19. Jahrhundert oder der Wiederentdeckung von zu Recht vergessenen Opern widmet, wird der Zukunft der Oper ernsthaft schaden.“
Die Kollegen des 2014 verstorbenen Visionärs des Musiktheaters scheinen seine Botschaft mittlerweile vernommen zu haben. Denn der Beginn des Jahres 2019 bietet eine beglückende Fülle an Neuinszenierungen großer Werke, die seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs entstanden sind oder die in der Gegenwart entstehen.
Geistergeschichten, Gefühlsfragen und radikales Musiktheater
Auffällig ist die vorherrschend angloamerikanische Provenienz der Premierentitel. Dabei stammt das älteste Werk aus dem Jahr 1954. Benjamin Brittens Kammeroper „The Turn of the Screw“ dreht sich, basierend auf der Novelle des Henry James, um eine Gouvernante, die eine geheimnisvolle Geistergeschichte imaginiert – oder doch tatsächlich durchlebt? Hausherrin Dagmar Schlingmann inszeniert Britten in Braunschweig höchstselbst. Auch in Magdeburg ist die Regie Chefinnensache, wenn Karen Stone Samuel Barbers und Gian Carlo Menottis „Vanessa“ in Szene setzt, die um die allzu menschliche, immer wieder aktuelle Liebesfrage kreist: Sollen wir für unsere Träume kämpfen? Oder unsere Gefühle der Realität anpassen?
John Cage befragt stattdessen in „Europeras“ weniger unseren archaischen Gefühlskanon als den Kanon der Gattung Oper selbst. In seinem im reinen Wortsinne radikalen Musiktheater gibt es längst keine Handlung mehr, es besteht aus einem per Zufallsgenerator komponierten Mix aus annähernd 200 Opern, die er im dadaistischen Stil zu einer Anti-Oper verquirlt. „Europeras“ ist eine Steilvorlage für das Regie-Trio von Rimini Protokoll, das nun auch in Wuppertal mit seinen Hybriden aus Theater, Hörspiel, Film und Installation einmal mehr den multiplen Perspektivwechsel wagt.
Cages Landsmann Steve Reich, Meister des Minimalismus, erzählt in seiner 2002 in Wien uraufgeführten Video-Oper „Three Tales“ in drei Stationen die Geschichte des technischen Wandels der Moderne. Die Künstlerin Beryl Korot schuf Bewegtbildcollagen zur Brandkatastrophe des Hindenburg-Zeppelins 1937, zu den amerikanischen Kernwaffentests auf dem Bikini Atoll 1946 und zur Schöpfung des Klon-Schafs Dolly 1996. Die Kammeroper ist minutiös auf die Videos abgestimmt und sozusagen ein digitalisiertes Gesamtkunstwerk. Das Theater Erfurt gibt das Erfolgsstück unter der Leitung von Peter Leipold.
Knallbunte Stil-Melange
Den komischen Kontrapunkt zum ernsthaften Neuen Musiktheater liefert das Münchner Gärtnerplatztheater. Auch der Operettenfrühling treibt also frische Blüten. Die Uraufführung von Thomas Pigors „Drei Männer im Schnee“, die auf einem Roman von Erich Kästner basiert, wird knallbunt inszeniert und in der Nachfolge des 1930 uraufgeführten Erfolgsstücks „Im weißen Rössl“ eine Stil-Melange. Das Werk enthält Jazznummern von Konrad Koselleck, Benedikt Eichhorn bringt die Musicalwelt und Christoph Israel seine Klassikexpertise ein. Pigor schart also wie einst Benatzky Erfolgskünstler ganz verschiedener Genres um sich.
Auch Beat Furrer erzählt in seinem neuen Werk „Violetter Schnee“ an der Staatsoper Unter den Linden vom Winter, allerdings in einer Alptraumvariante. In apokalyptischer Kälte trifft eine Gruppe Überlebender aufeinander, die angesichts der Katastrophe zu verstummen drohen. Furrer evoziert das Eis auch in der Musik, die formal zunehmend zersplittert und sich auflöst. Matthias Pintscher wird den Stab führen, und die Stars Anna Prohaska, Elsa Dreisig, Gyula Orendt, Georg Nigl und Otto Katzameier bilden mit Schauspielerin Martina Gedeck das Ensemble der Uraufführung.
concerti-Tipps:
Braunschweig
Fr. 11.1. 19:30 Uhr (Premiere) Staatstheater Britten: The Turn of the Screw. Ivàn López Reynoso (Leitung), Dagmar Schlingmann (Regie).
Weitere Termine: 18. & 30.1., 9. & 12.2., 3. & 10.3.
Berlin
So. 13.1., 18:00 Uhr (UA) Staatsoper Unter den Linden Furrer: Violetter Schnee. Matthias Pintscher (Leitung), Claus Guth (Regie).
Weitere Termine: 16., 24., 26. & 31.1.
Magdeburg
Sa. 19.1., 19:30 Uhr (Premiere) Oper Barber: Vanessa. Svetoslav Borisov (Leitung), Karen Stone (Regie).
Weitere Termine: 26.1., 9.2., 31.3. & 8.5.
Erfurt
Do. 31.1., 20:00 Uhr (Premiere) Theater Korot & Reich: Three Tales. Peter Leipold (Leitung), Stefan Winkler (Lichtdesign).
Weitere Termine: 2., 9. & 23.2., 3. & 24.3., 7. & 20.4.
München
Do. 31.1., 19:30 Uhr (UA) Gärtnerplatztheater Pigor: Drei Männer im Schnee. Andreas Kowalewitz (Leitung), Josef E. Köpplinger (Regie).
Weitere Termine: 2., 3., 9. & 28.2., 3., 6., 7. & 10.3.
Wuppertal
Sa. 2.2., 19:30 Uhr (Premiere) Wuppertaler Bühnen Cage: Europeras 1 & 2. Johannes Pell (Leitung), Rimini Protokoll (Regie).
Weitere Termine: 10.2., 1.3., 6.4. & 19.5.