„Elektra ist nicht mehr Elektra, weil sie eben ganz und gar Elektra zu sein sich weihte.“ Dieses Zitat aus der Werkstatt des Librettisten Hugo von Hofmannsthal stand am Beginn der Magdeburger Erstaufführung. In der ritualisierenden Ausdruckssprache der chilenischen Regisseurin Aniara Amos vollzogen sich – mit totalem Körpereinsatz – zwingend die Spaltungen und Kindheitsbeschwörungen von gleich neun erwachsenen Elektras. Realität, Visionen und Racheattacken summierten sich durch das Opern-Ensemble und den ersten Kapellmeister Michael Balke zu einem enormen Kraftpaket.
Die 83 Musiker im Graben loteten die Riesenpartitur von Richard Strauss beunruhigend aus. Das im Vergleich mit anderen mitteldeutschen Theatern recht junge Publikum war fasziniert und dankte mit beglücktem Applaus für eine packende Premiere – über 100 Jahre nach der Uraufführung.
Dramatisches Orchesterspiel
Für mehrere szenische Sinnebenen entfaltete Michael Balke den Klangkosmos von Strauss in sehrender Spannung – auf Herz und Nieren! Mitunter übertönte die Magdeburgische Philharmonie im quasi quälenden Aufbäumen die Solisten. Dennoch forcierten diese nicht, gewachsen waren sie ihren strapaziösen Aufgaben in jedem Moment.
Mit diesen vorsätzlichen Eruptionen legte Balke den im Uraufführungsjahr 1909 so verstörenden anarchischen Gestus der Partitur wieder frei. Durch die stellenweise Zurücknahme der Mittelstimmen erzeugte er ausgezehrte Klangwirkungen, in welche die glänzend vorbereiteten Blechgruppen energisch hineinfuhren und in denen Streicher kalten Glanz hatten.
Figurative Personenspaltung
Das war die ideale Grundierung für Elektras Rachephantasmagorien in einem Nervengefängnis mit Mauerrund, Zellenöffnungen und Zinnengang. Diesen archaischen Raum enthebt Corinna Gassauer realen Bezugspunkten. Die Elektra-Mägde sind bis zum Ende präsent – die singende Elektra ist anfangs unter ihnen, sie schält sich aus der Gruppe und nimmt am Ende unerlöst wieder ihren Platz ein. Sie und dazu Schwester Chrysothemis gleichen sich mit langen schwarzen Haaren, sie allesamt verwildern im animalischen Geschehen immer mehr.
Es sind Festtags- und Firmungskleider für kleine Mädchen, in die Maria Elena Amos diese Elektra-Hülsen steckte. Die „braven Elektras“ finden absichtsvoll und unartig schneidende Töne, sie belauern Alles und Alle. Die Suche nach dem Mordbeil wird zum barbarischen Kriegstanz. Bruder Orest mordet als Kapuzenskelett aus der Karfreitagsprozession die wie die große Hure Babylon in Luxus gepanzerte Mutter Klytämnestra. Aegisth folgt dieser als östrogengedunsener Popanz in den Tod. Die jüngere Schwester Chrysothemis ist eine Anima-Projektion Elektras, die sinnlich, aber nie nymphoman ein Leben ohne Mauern will.
Spannendes Stimm- und Spielensemble
Das funktionierte auch, weil die Interpretin Noa Daron als Chrysothemis durch Ausflüge in Mezzorollen über eine dramatische Vokalsubstanz gebietet und damit in Timbre und Ausdruck recht nahe an ihre große Schwester kommt: Elaine McKrill hatte als Elektra ihr Respekt heischendes Rollendebüt. Neben allen mit Kondition bewältigten Forte-Kaskaden zeigte sie in den Pianomomenten hohe lyrische Qualität. Mehr noch als die beiden bombensicheren hohen Cs und die im musikalischen Fluss immer sinnfällige Phrasierung beeindruckte ihre sogar im sanften „Orest“-Solo fokussierte Diktion. Diese Verhärtung des Textes war ein durchgängiges Rollencharakteristikum.
Undine Dreissig hatte vor Klytämnestra tatsächlich schon die Königin von Saba gegeben, als deren reifere Persona sie hier in den Ring tritt. Ihr Mezzo durchmisst tonsicher und mit Wärme – ohne die sonst üblichen Kreisch- und Schreieinlagen – alle Affektpole der kranken, aus innerer Not abergläubischen Schlächterin. Martin-Jan Nihhof erfüllt als Orest schon vokal alle Voraussetzungen zum Vollstrecker. Michael Griffke als Aegisth skandiert und wispert mit Format.
Kinder als Opfer
Elektra findet im Tanz keinen Tod, keine Erlösung. Die immer wieder als Kinder erscheinenden Atriden-Geschwister entheben das Ende jeder Eindeutigkeit und Mordsekstase. Klytämnestra beginnt ihre intime Zwiesprache mit den Kleinen, erst dann mit der erwachsen-entwachsenen Tochter. Das Fangenspiel mit dem adretten Papa Agamemnon, während die große Elektra den Verlust ihrer „Scham“ beklagt, legt den Gedanken an Missbrauch nahe.
So wird diese familiäre Monstertragödie erst recht nach Elektras Tanz mit Gesten aus dem Kinderballett und das im Schlusstakt getrübte martialische C-Dur hinaus zum Rätsel. War das alles ein infernalischer Alptraum in ständiger Wiederkehr – oder die verzerrte Wahrnehmung einer leidvollen Wirklichkeit? Diskussionsstoff nach 100 Minuten geballten Musiktheaters.
Es gilt zu beobachten, ob der Psychothriller Die tote Stadt ab Januar 2016 am Theater Magdeburg ebenso starke Siedegrade erreichen kann.
Theater Magdeburg
Strauss: Elektra
Michael Balke (Leitung), Aniara Amos (Regie), Corinna Gassauer (Bühne), Maria Elena Amos (Kostüme), Elaine McKrill, Noa Danon, Undine Dreißig, Martin-Jan Nijhof, Michael Gniffke, Paul Sketris/Johannes Stermann, Chan Young Lee, Frank Heinrich, Jenny Stark, Henriette Gödde, Ilka Hesse, Inga Schäfer, Uta Zierenberg, Hale Soner, Opernchor des Theaters Magdeburg, Magdeburgische Philharmonie
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