Opernhäuser müssen Widersprüche aushalten: nicht zuletzt jenen zwischen Armen und Reichen, also jenen Menschen, die fast nie ein hohes Haus der Musen betreten, und den anderen, die sich im Glanze dieser Tempel der Hochkultur sonnen. Im besten Falle aber halten Opernhäuser solche Widersprüche nicht bloß aus, sondern lassen sie fruchtbar werden, entwickeln Konzepte daraus, reißen Schwellen ein, bauen Ängste und Vorbehalte ab.
„Hoffnung wagen“
Aviel Cahn, der in diesen Tagen sein Amt als neuer Intendant des Grand Théâtre de Genève antritt, hat sich offensichtlich für den beherzt positiven Umgang mit den Widersprüchen entschieden, die gerade seine neue Arbeitsstätte auszeichnen. Auf dem Titel der Saisonbroschüre 2019/20 jedenfalls ist gerade nicht der schöne alte Glanz des Grand Théâtre des Genève zu sehen, den sein Vorgänger Tobias Richter in einer umfassenden Sanierung der Foyers neu erstrahlen ließ. Nein, ein durchaus wenig ansehnliches Hochhaus ziert die Broschüre, ein grauer, menschenleerer Platz aus Betonplatten mit barackenartigem Flachdachvorbau davor. Darüber freilich steht das Motto der Saison: „Oser l’espoir“, zu deutsch: „Hoffnung wagen“. Ein Pfau am unteren Bildrand steht für die Hoffnung, aus Widersprüchen Energie zu gewinnen, die Bilder der teuren Uhren- und Diamantenläden des Zentrums und die Gegenbilder der eher hoffnungslosen Vorstädte aufeinander zu beziehen. Aviel Cahn will die Tore des Grand Théâtre weit machen, will gesellschaftliche Durchlässigkeit, die sich in der künstlerischen Grenzenlosigkeit der Inszenierungen spiegeln soll.
Das Opernhaus öffnen: „Am Ende des Weges liegt nur das Meer“
Musik und Gesang sind dann mehr als das in angenehmen Häppchen gereichte Futter für die kulinarischen Melomanen, Musik und Gesang werden zu Schwestern von Literatur, Tanz, Kino und Theater, von zeitgenössischen Kunstformen und anderen künstlerischen, wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Playern der Stadt. Die Idee der Vermittlung gewinnt bei Cahn nicht nur die übliche pädagogische Komponente, unter dem Lust und Laune machenden Subtitel „La Plage“, der in der Stadt der Strandbäder am Genfer See fürwahr Sinn macht, kreiiert seine Dramaturgin Clara Pons eine ganze Palette an Programmen und Projekten der Öffnung. Cahn und Pons wollen dieses Füllhorn an Ideen dezidiert als „Signal an die Stadt“ verstanden wissen, ein Angebot mit möglichst offenem Ausgang, „am Ende des Weges liegt nur das Meer“, sagt Pons mit hoffnungsfroher Poesie.
Dramaturgisch durchdacht ist dieser Spielplan, aber nicht dramaturgisch verkopft.
Der Premierenreigen der Saison 2019/20 indes ist seinerseits eine Einladung an die Stadt, über sich selbst durch die Sinnlichkeit der Gattung neu nachzudenken. Dramaturgisch durchdacht ist dieser Spielplan, aber nicht dramaturgisch verkopft. Große Titel, die man in Genf auch erwartet, sind sehr wohl dabei: eine neue „Aida“ und eine neue „Cenerentola“. Dazu gibt’s gleich vier Schweizer Erstaufführungen und eine Uraufführung. Allen Produktionen gemein ist die Tatsache: „Jedes Werk hat eine Verbindung zu Genf“, postuliert Cahn. Da wird die „Aida“ also nicht einfach als Augen und Ohren schmeichelnde Grand Opera zelebriert, vielmehr soll sie die Genfer Konvention der Kriegsgefangenen reflektieren. Regisseur Phelim McDermott wird dazu einen intimen Blick auf die politische Intrige des Stücks wagen und weniger den monumentalen Effekt bedienen (ab 11. Oktober). Augenzwinkernd begegnet Offenbach-Spezialist Laurent Pelly dem Geklimper des Geschmeides der Diamanten der Reichen und Schönen in seiner Sicht auf Rossinis Aschenputtel-Oper „La Cenerentola“ (ab 4.5.2020).
Genf und seine Geschichte spielt stets mit
An die Geschichte von Genf als Ort der Reformation erinnern Jossi Wieler und sein Ko-Regisseur Sergio Morabito in ihrer Sicht auf Meyerbeers „Les Huguenots“ (ab 26.2.2020). In kontrastierender Ergänzung dazu wird mit Adel Abdessemed ein Star der zeitgenössischen Kunst das Zentralwerk des tiefgläubigen Katholiken Messiaen auf die Bühne bringen: „Saint Francois d’Assise“ (ab 26.6.2020). Der Begegnung sich fremder Kulturen spürt der Belgier Luc Perceval in Kooperation mit der türkischen Autorin Asli Erdogan in einer textlichen Neufassung von Mozarts „Die Entführung aus dem Serail“ nach (ab 22. Januar 2020). Die Ballettkompagnie des Hauses wird die Dramaturgie des Dialogs künstlerisch beleben und Rameaus Opéra-ballett „Les Indes galantes“ bereichern, die von der barockffinen Amerikanerin Lydia Steier in Szene gesetzt wird.
Ein Opern-Roadmovie
Die neue Ära der Intendanz von Aviel Cahn wird bereits am 11. September eingeläutet – mit einer weiteren Schweizer Neuheit: „Einstein on the Beach“ von Philip Glas und Robert Wilson, für die mit Daniele Finzi Panza der Regisseur der diesjährigen Fête des Vignerons, mithin des Winzerfests, Verantwortung trägt. Die Bezüge zur Stadt und ihren Traditionen kennen somit durchweg keine Grenzen. Für die Uraufführung „Voyage vers l’espoir“ (ab 30.3.2020) konnte Cahn den Komponisten Christian Jost gewinnen, Genf als Grenzstadt zu thematisieren. Als Opern-Roadmovie wird hier eine kurdisch-schweizer Flucht auf die Bühne gebracht und damit die Empathie als menschlicher Grundwert hochgehalten. Die Oper folgt dem 1991 entstandenen Film von Xavier Koller, dem bislang einzigen Schweizer Streifen, der mit einem Oscar ausgezeichnet wurde.
Große Stimmen dürfen nicht fehlen
Freundinnen und Freunder großer schöner Stimmen kommen beim mutigen Genfer Neustart keineswegs zu kurz. Auf den Besetzungslisten stehen Namen wie John Osborne und Michele Pertusi („Les Huguenots“), Anna Goryachova und Edgardo Rocha („La Cenerentola“) und Kyle Ketelsen und Michael Kraus („Saint Francois d’Assise“). Die Grande Dame der französischen Opernszene Natalie Dessay kehrt zudem für einen Liederabend nach Genf zurück (26. April 2020).