Die Kanzlerin kommt diesmal nicht zum Zug, wie zuletzt im Lübecker Tannhäuser, den Regisseur Florian Lutz an der Trave gekonnt politisiert und dazu die Elisabeth als Wiedergängerin der Opernfreundin Angela Merkel auf die Bühne gebracht hatte. Und doch ist Offenbachs genialischer Torso Hoffmanns Erzählungen wie Wagners Wartburgwerk eine Künstleroper – und taugt als solche natürlich zur heimlichen Fortsetzung der vorangegangen Inszenierung des designierten Operndirektors des Theaters in Halle.
„Kunst muss eine Zumutung sein“
Statt der Kanzlerin setzt Lutz nun auf die Kulturstaatsministerin, die just als Muse (sic!) des ach so unangepassten Künstlers Hoffmann den ideologischen Überbau des vergnüglich frechen Abends liefern darf – in ihren initialen moderierenden Einwürfen: In Adornozitaten schwafelt sie davon, dass „Kunst eine Zumutung“ zu sein habe und die saturierte Gesellschaft aufrütteln müsse. Herrlich doppelbödig und selbstironisch nimmt der Regisseur so das längst zum bildungsbürgerlichen Bekenntnis gewordene Provokationsgebot der Kunst auf die Schippe. Ein Jonathan Meese ist heute eben (fast) bayreuthtauglich, im Chor findet sich nicht zufällig ein Wiedergänger des Aktionskünstlers.
Staatstragende Sehnsucht nach kritischer Kunst
Wioletta Hebrowska singt und spielt die Muse mit der perfekt austarierten Mezzo-Mischung aus staatstragender Herbheit und sehnsüchtiger Sinnlichkeit. Ganz klar: Spätestens seit ein konservativ geführter Hamburger Senat den teuren Rückkauf der von (kaum bedeutenden) Künstlern besetzten Häuser des historischen Gängeviertels realisierte, haben die Dümmsten kapiert, dass die Vereinnahmung durch das Establishment all der vorgeblich sperrigen, sich gern gesellschaftskritisch gebenden subversiven Kunst heute längst zur Logik des Systems gehört. Wenn die Altmeister des Regietheaters zwar immer noch gebetsmühlenartig die kritische Kraft der Kunst wiederholen und dazu Punker nur mehr dekorativ auf die Bühne stellen, ist Florian Lutz da einen großen Schritt weiter und entlarvt die hohle Masche seiner Künstlerkollegen vortrefflich, urkomisch unterhaltsam und dennoch zum Nachdenken anregend.
Hoffmann, der Spießer-Avantgardist von links
Folglich ist sein Ledermantel-Langhaar-Hoffmann in prolligen Plastikschlappen nebst weißen Socken nichts anderes als ein Spießer von links, dessen versoffene studentische Kumpanen bestenfalls „Bahnhof“ verstehen, als die Staatsministerinnen-Muse von ihnen aufrüttelnde künstlerische Diskurse einfordert. Wenn der Möchtegern-Avantgardist Hoffmann (Jean-Noël Briend singt ihn mit unverwüstlich höhensicherem, aber auch rustikalem Tenor) dann im Giulietta-Akt eine Heavy Metal-Nummer als zeitgemäße Offenbach-Verwurstung ins Mikro brüllt, löst das zwar im Publikum ein paar spontane Buhrufe aus, doch auch dieser Bruch der ohnehin nicht letztgültig geklärten Werkintegrität des vor der Uraufführung verstorbenen Wahlfranzosen Offenbach ist nur lustvolles Spiel mit den Erwartungen des Inszenierungsgebots des Bruchs von Erwartungen. Florian Lutz versteht sich also glänzend auf Adorno 2.0.
Von der Muckibude ins Opernmuseum
Die Begegnungen mit Hoffmanns drei verflossenen Lieben inszeniert Lutz als furioses Decresdeno: fantastisch überdreht steigt zunächst der Olympiaakt in einer Muckibude, die auch Schönheits-OPs durchführt. Das hier gleich doppelte Puppenmonster Olympia ist eine körperlich selbstoptimierte reale Schöne. Fabienne Conrad gibt sie (neben einem die Figur doppelnden krassen Muskelmodel) mit unglaublichem szenischen Mut und schwirrenden Koloraturen: ein sängerdarstellerisches Ereignis, das sich musikalisch freilich noch steigert. Denn die enorm attraktive Französin nimmt sich aller Liebhaberinnen des Hoffmann an. Im kammerspielartig zurückgenommenen Antonia-Akt stattet sie die lungenkranke Sängerin mit schwebenden und dennoch substanzstarken Pianotönen aus. Fabienne Conrad verbindet die Atemtechnik und das Legatoschwelgen der Alten Schule mit ganz modernen Frauenportraits, die wirklich berühren. Und Lutz zeigt hier, dass er sehr wohl auch konzentrierte ruhige Regiemomente zaubern kann. Den Giulietta-Akt verlegt er schließlich gar ins Opernmuseum von Venedig, treibt damit die virtuose Dramaturgie der multiplen Brüche auf die Spitze.
Hausensemble schlägt GMD
Während das gewohnt hochklassige Hausensemble von Bariton Gerard Quinn – in den Rollen des vierfachen Bösewichts wunderbar idiomatisch singend – überlegen angeführt wird, hinterlässt der japanische GMD Rysuke Numajiri einen disparaten Eindruck. Er folgt zwar dem rasanten Tempo der Regie, für französische Zwischentöne, Charme und Humor lässt er sich dabei keine Zeit.
Theater Lübeck
Offenbach: Hoffmanns Erzählungen
Ausführende: Rysuke Numajiri (Leitung), Florian Lutz (Inszenierung), Martin Kukulies (Bühnenbild), Mechthild Feuerstein (Kostüme), Fabienne Conrad, Jean-Noël Briend, Gerard Quinn, Guillermo Valdès, Steffen Kubach, Taras Konoshchenko