Das Kreativteam zeigte sympathischen Mut zum Risiko. Und das passt voll zu Offenbachs nur fast vollendetem Vermächtnis „Hoffmanns Erzählungen“ von 1881, in das die Editoren Michael Kaye und Jean-Christophe Keck seit Jahren immer wieder neue Notenfunde einbauen. Dieses musikdramatische Röntgenbild eines Genies mit Genius lässt niemanden ungerührt. Zwiespältigkeit der Aussage ist bei „Hoffmanns Erzählungen“ – korrekt im Sinne der einander ebenbürtigen Gedankentäter E. Th. A. Hoffmann und Jacques Offenbach – meistens ein Sieg im Geisteskrieg mit dem atemberaubend unergründlichen Werk. Im Auditorium der Semperoper verhinderte gegenseitiger Respekt die angereizte Bereitschaft zur Saalschlacht, dabei hätte sich der Kampf in Lautstärken dort unterhaltsam fortsetzen dürfen. Schade, denn hier ging’s um das Ganze. Was macht ein Komponist von heute und Musiktheoretiker wie Frédéric Chaslin als Dirigent mit diesem Riesentorso? Regisseur Johannes Erath, der in Hamburg zum Beispiel ein poetisch-trauriges „Schlaues Füchslein“ gezaubert hatte, ließ mutig alle Konsequenz fahren: Hier wird das Unerwartete zum Gleichnis durch gesuchte Unlogik.
Schizophrenie in Lila
Nicht in Luthers Weinstuben am Berliner Gendarmenmarkt spielt die von den Boulevardautoren Jules Barbier und Michael Carré angerichtete Collage aus Hoffmann-Texten, sondern im von Heike Scheele auf der Bühne gespiegelten Hufeisenrund der Semperoper und deren Seitenfluren. Gleich drei Protagonisten schieben das Geschehen an, und die sind WIR selbst, wie sich dann zeigt. Der Gegenspieler – nicht „Bösewicht“, aus vier mach eins: Peter Rose, unsere dunkle Seite, dessen körperliche Präsenz zur einschüchternden Marke wird. Sein Stammplatz ist in der linken Proszeniumsloge, mit Alkohol. Ihm gegenüber in der rechten Proszeniumsloge Hoffmanns Muse, mit Besitzansprüchen und Nikotin. Sie ist unser Fantasiepotenzial, eine gertenschlanke androgyne Frau mit den letzten Wahrheiten. Christina Bock wirft sich immer wieder ins chorische Getümmel, wird neben Christa Mayers „Stimme der Mutter (Antonias)“, der vierten, selbst zur fünften Frau in drei Erzählungen Hoffmanns. Die Sängerin Stella tritt dafür am Ende nicht in Erscheinung, obwohl einmal Mozarts erstes „Giovanni“-Finale hereinplärrt. Am Ende sind Resonanzkörper einer Violine und die Frauenleiber bildkräftig zur Einheit geschweißt. „Dies und das und noch etwas“ aus E. Th. A. Hoffmanns und Offenbachs immensen Zeichenreservoirs wird angerissen wie bei Wagners Wissenswette: Abendfülllende Verführung und Irreführung in Kunst- und Rätsellaune.
Wir sind alle eine einzige multiple Persönlichkeit
Spätestens beim Auftritt der Studenten (nicht Studierenden) wird der Spielraum weiß, und wenn der großgewachsene Eric Cutler als Hoffmann, nebst Gegenspieler und Muse der dritte in Lila, dazukommt, bestätigt sich: Wir alle – auf und vor der Bühne – sind eine einzige multiple Persönlichkeit. Und die Frauengeschichten? Dafür signalisieren drei große Würfel mit den Innenleben Frauen-Torso, -Rumpf, -Beine die Parallelen und Disparatheit bis zum niederschmetternden Vaudeville-Kanon am Ende: „Man ist groß durch die Liebe und noch größer durch Tränen.“
Ballerinenfetischismus
Das ist die allerletzte Behauptung, denn Hoffmann sollte froh sein, alles hinter sich zu lassen, was um ihn oder doch nur in unserer kranken Psyche passiert ist. Ein weißes Ballerinakleid dient ihm zum Fetisch, mit dem treibt er – wie seine drei Doubles – den gar schwanentänzerischen Kult. Hoffmann presst Frauen in Klischees wie Blüten ins Herbarium: Erst Olympia – die Puppe wird echte Ballerina und Hoffmann verschwindet unter ihrem Rock. Verständlich, denn Tuuli Takala zeigt die sängerisch wärmste, schönste und in dieser Rolle deshalb ungewöhnliche Leistung des Abends. Hollywood-Archetyp in etwa die sanfte Julia Roberts. Es folgt Frauenopfer Nummer Zwei, im Originaltext die karriereversessene und durch Krankheit ausgebremste Sängerin Antonia. Sarah-Jane Brandon zeigt künstlerische Stärke als Couch Potato und wird dann zum Star wie das Opfer Marilyn M. Beim Todesterzett schreitet sie im Sangesdelirium durch die Semperoper, ein Videotraum in Schwarzweiß.
In der Canaletto-Bar von New Orleans
Richtig irrsinnig wird es bei der Kurtisane Giulietta. Im venezianischen Dekadenzsumpf krempelt sich Hoffmann das Hemd hoch und reißt den Kragen auf. Vielleicht ist das ein Drogenflash, doch ohne gezeigten Konsum – den muss man mitdenken. Mit Mut tändelt man weiter zur Political Incorrectness: Der weiße Mann Hoffmann drückt Giuliettas Gesicht zwischen seine Beine und erstickt sie fast, das Duett danach singen beide trotzdem schwelgerisch. Measha Brueggergosmans „O Juliet“-Giulietta verschlingt Männer generell und überall. Sie ist wie Webbers „Evita“, dargestellt von einem Clon aus Tina Turner und Donna Summer. Und sie singt mit Belt und Soul, als ginge es mindestens um den Grand Prix. Gesine Völlm kokettiert dazu mit ihren Kostümen, als seien wir in der Canaletto-Bar von New Orleans: Sehr adrett machen sich die Staatsopernchor-Damen mit Bärten, die Herren in Röcken, allesamt mit Charme und Melone. Das darf beim Schlussapplaus nochmals mit gebührender Dauer goutiert werden.
Akustischer Super Flash
Danken sollte Dresdens „Wunderharfe“ dem innovativen Meister Frédéric Chaslin: Er definiert ein diskussionswertes Exempel zwischen Partitur und Klang. Ganz nebenbei inspiziert er mit der sehr willig-hingabefähigen Staatskapelle wichtige Stile der Unterhaltungsmusik des letzten Jahrhunderts. Dialoge entfallen so gut wie alle. Frédéric Chaslin vermutet mit oft allerbreitesten Tempi Wagnerkult in der „Grand Opéra-lyrique-comique“ Offenbachs. Er generiert postsinfonisches Musikdrama dort, wo Offenbach mit Violin- und Vokalsymbolen die absolute Musik sucht. Soloinstrumente reizen überall, und vor allem im Olympia-Akt gibt es Valeurs wie bei den Salonmusiken im Prager „Hotel Europa“. Jeder Akt etabliert ein anderes Klanggenre. Am vertrautesten ist jenes bei Antonia, die allerdings eher Noten von Brahms als aus Paris singt und damit den beredten Beleg zum Gelingen dieses Vexierspiels liefert. Die letzte Überraschung gewährt die Lasterhöhle Giuliettas, weil die Dame des Hauses nicht zu „Juliska aus Budapest“ mutiert, was konsequent gewesen wäre, sondern zur Spinnenfrau ohne Kuss. Ehrlicher Anlass zur Freude ist, wenn die von der Quellenkritik verschmähten Wunschnummern – das geniale Schattenseptett und die Diamantenarie – endlich wiederkommen. Sogar noch da zeigen alle Solistinnen und Solisten nach über drei Stunden voller hochgetunter Phonstärken bewundernswerte Energiereserven.
Alles in allem ist dieser Abend ein sattes Adventsgeschenk: Viel Gedankenkonfekt und eine enorme Kaloriensünde.
Semperoper Dresden
Offenbach: Hoffmanns Erzählungen
Ausführende:
Frédéric Chaslin (Leitung), Johannes Erath (Regie), Heike Scheele, Norman Heinrich (Bühne), Gesine Völlm (Kostüme), Jörn Hinnerk Andresen (Chöre), Eric Cutler (Hoffmann), Christina Bock (Nicklausse / Die Muse), Tuuli Takala (Olympia), Sarah-Jane Brandon (Antonia), Measha Brueggergosman (Giulietta), Peter Rose (Die vier Gegenspieler: Lindorf, Coppelius, Mirakel, Dapertutto), Aaron Pegram (Andrès, Cochenille, Pitichinaccio, Frantz), Tilmann Rönnebeck (Lutter, Crespel), Tom Martinsen (Spalanzani), Christa Mayer (Stimme der Mutter), Sächsischer Staatsopernchor Dresden, Sächsische Staatskapelle Dresden