Ein Toter liegt an der Laterne – unweit der kleinen Bäckerei. Die Dorfgemeinschaft findet den jungen Mann. Seine alte Mutter bricht über der Leiche zusammen. Gleich einem filmischen Foreshadowing nimmt Damiano Michieletto das erste tödliche Ende des Verismo-Doppelpacks zu Beginn von Cavalleria Rusticana vorweg. Nach 75 spannungsprallen Minuten sehen wir exakt diese Szene noch einmal. Antonio Pappano hat bis dahin das leidenschaftliche An- und Abschwellen der Phrasen, all dieses energetische Pulsieren voller südlichem Temperament mit seinem Orchester und einer gefeierten Sängerschar grandios ausmusiziert. Und Regisseur Michieletto hat dazu präzise und einfühlsam einem filmischen Realismus gehuldigt, der die einstigen Schockwirkungen des Verismo mit Bildern erneuert, die so oder ähnlich in jeder heutigen Kleinstadt Siziliens oder Kalabriens zu sehen sein könnten.
Oper als brutaler Spiegel der Wirklichkeit
Wenn die Oper des Verismo der brutalen Wirklichkeit den Spiegel vorhält, ohne zu schönen, ohne mit Theaterschminke zu verkleistern, was im wahren Leben so los ist, dann gelingt diese ursprüngliche Absicht der naturalistischen Spielart des Musiktheaters hier ganz vortrefflich. Die Eifersuchtsgeschichte gewinnt in der Aktualisierung eine bestürzende Dringlichkeit. Statt mit seinem Pferdegespann fährt Alfio mit seinem Automobil vor, er ist ein fieser kleinmafiöser Gauner, dem Bariton Dmitri Platanias die Züge eines schmierigen Fettwanstes verleiht. Seinen tenoralen Gegenspieler Turriddu gibt Yonghoon Lee als präpotent brutalen Lederjacken-Macho. Seine stets eine Spur zu lauten Töne imponieren freilich der Frauenwelt, sowohl der feschen Lola, Alfios von ihm wohl kaum befriedigter jugendlicher Gattin, als auch der in die Jahre gekommenen Santuzza, der Turridu einst die Ehe versprochen hatte.
Bigotte Gesellschaft einer Dorfgemeinschaft
Damiano Michieletto schaut sehr genau hin, wie eine Dorfgemeinschaft auch heute noch auf das reagiert, was nicht sein darf, aber dennoch immer so wahr. Die Osterszene spitzt er als Sittengemälde einer bigotten Gesellschaft zu: Die Marienstatue der Prozession selbst ist es, die zum Leben erweckt den Zeigefinger auf die Sünderin Santuzza erhebt. Eva-Maria Westbroek ist eine in der Mittellage eindrucksvoll füllige und sehr dramatische, freilich auch arg tremolierende, in ihrer verblühenden Weiblichkeit zudem sehr tragische Santuzza. Eine Freude ist das durchweg exzellente Italienisch, das in Covent Garden zu hören ist, zumal die meisten Partien gar nicht mit Italienern besetzt hin. Ein Urerlebnis aus dem Land der Oper indes ist Elena Zilio, die ein in jeder Hinsicht scharf gezeichnetes Portrait der Mamma Lucia abliefert.
Aus Cavalleria Rusticana und Pagliacci wird ein einziges Stück
Überaus clever verknüpft Michieletto die Cavalleria Rusticana mit dem nachfolgenden Bajazzo, indem er beide Stücke im selben Dorf spielen lässt und das heimliche Liebespaar des zweiten Teils via Parallelhandlung bereits zu Beginn einführt. Denn der Silvio-Liebhaber aus dem Bajazzo ist der Bäcker im Paneficio der Cavalleria. Im kleinen Laden unweit der Laterne flirtet Silvio schon mal mit der liebeshungrigen Nedda, die wie ihre Dorfschwester im Geiste, Lola, einen älteren Mann geehelicht hat, der er nicht mehr all das geben kann, was sie erwartet. Dank der enorm attraktiven Carmen Giannattasio ist diese Nedda eine ganz moderne emanzipierte Frau: Sie steckt voller sexueller Energie, die sich im Kerker ihrer Ehe mit Canio aufgestaut hat und nach einer selbstbestimmten Entladung drängt. Giannattasio macht das mit einer emotional ungemein dichten Darstellung deutlich und einer am Belcanto geschulten, jeder Wortnuance intensiv nachspürenden stimmlichen Durchdringung.
Die Komödianten um ihrem Mann Canio und den unglücklich in sie verguckten Tonio zieht in Michieletto Regielogik nun nicht als fahrende Künstlertruppe von Ort zu Ort. Vielmehr spielen sie das Spiel im Spiel der Bajazzo-Handlung in der Schulaula ihres Dorfes. Die Eifersuchtsszene beginnt zunächst hinter den Kulissen, kippt dann in die im Stile von Opas Mottenkistenoper gespielte Komödienhandlung, aus der sie mit Canios Doppelmord an seiner Frau und ihrem Liebhaber Silvio gänsehautevozierend wieder in die Wirklichkeit fällt. Ein perfekter Trick, um den einst von Leoncavallo behaupteten Realismus frisches echtes Theaterblut zuzuführen.
Weltklasse-Besetzung
Die Besetzung ist pure Weltklasse: Aleksandrs Antonenko ist ein Canio alter Schule, mit all dem fest fokussierten Metall seines Heldentenors erinnert er an den großen Russen Wladimir Atlantow. Und der musikalische Hausherr dirigiert wiederum einen elektrifizierenden Verismo voller Glut, voller Zwischentöne, voller Farben: Sir Antonio Pappano ist und bleibt einer der bedeutendsten Operndirigenten unserer Zeit. Da er London treu bleibt, müssen sich deutsche Opernfans nur immer wieder auf den Weg an die Themse machen, um ihn zu erleben. Der Weg lohnt jeden Penny der hohen Eintrittspreise. Die Royal Opera zeigt sich in königlicher Verfassung.
Royal Opera House Covent Garden
Mascagni/Leoncavallo: Cavalleria Rusticana/Pagliacci
Ausführende: Antonio Pappano (Leitung), Damiano Michieletto (Inszenierung), Paolo Fantin (Bühne),Carla Teti (Kostüme), Yonghoon Lee, Elena Zilio, Eva-Maria Westbroek, Dmitri Platanias, Martina Belli, Aleksandrs Antonenko, Carmen Giannattasio, Benjamin Hulett, Dionysios Soubris