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OPERN-KRITIK: INNSBRUCK – BORIS GOUDENOW

Russische Korruption

Nationale Klischees mit kabarettistischer Prägnanz: „Boris Goudenow“ bei den Innsbrucker Festwochen ist nicht nur wegen des Wechsels verschiedener Sprachen unverständlich.

vonRoland H. Dippel,

Erst 2005 fand in Hamburg die konzertante Uraufführung des von Johann Mattheson 1710 für die Hamburger Gänsemarkt-Oper getexteten und komponierten „Boris Goudenow“ statt. Noch immer sind die Hintergründe der vor 211 Jahren geplatzten Premiere rätselhaft. Diese lassen sich allein mit Aufführungsschwierigkeiten nicht begründen. Passte den Geldgebern am Beginn des Nordischen Krieges das Sujet mit den beiden Zaren nicht? Die Matthesons Oper zugrunde liegenden historischen Begebenheiten lagen zum Zeitpunkt der Komposition nur wenig mehr als ein Jahrhundert zurück. Insofern ist „Boris Goudenow“ fast eine Zeitoper über das aus Perspektive Mitteleuropas als archaisch und exotisch empfundene Russland, damit Telemanns „Miriways“ (1728) über Verwicklungen im Iran ähnlich. Matthesons Faszination für den Stoff zeigt sich auch darin, dass er das Libretto selbst verfasste.

Um den Kern der Intrige arrangierte der Komponist und Musikschriftsteller pralle Wirren, um deren besseres Verständnis sich die Choreographin und Regisseurin Jean Renshaw in den Kammerspielen des Hauses der Musik Innsbruck intensiv bemühte. In der Reihe „Barockoper Jung“ singen Finalisten und Preisträger des seit 2010 von den Innsbrucker Festwochen der Alten Musik veranstalteten Internationalen Gesangswettbewerb für Barockoper Pietro Antonio Cesti. Auffallend ist dieses Jahr die Prägung barocker Stilkompetenzen der Beteiligten in Frankreich und dort vor allem im Ensemble Opera Fuoco unter David Stern.

Szenenbild aus „Boris Goudenow“: Sreten Manojlovic (Fedro), Yevhen Rakhmanin (Theodorus), Olivier Gourdy (Boris) & Sebastian Songin (Bogda)
Szenenbild aus „Boris Goudenow“: Sreten Manojlovic (Fedro), Yevhen Rakhmanin (Theodorus), Olivier Gourdy (Boris) & Sebastian Songin (Bogda)

Das Kreuz mit der Macht und der Liebe

Nicht nur durch das ständige Wechseln zwischen deutscher und italienischer Sprache, wie er gern an der Gänsemarkt-Oper praktiziert wurde, blieben zahlreiche Handlungsdetails in „Boris Goudenow“ unverständlich, sondern vor allem durch Matthesons dramatische Konstruktion. In einer Arie heißt es, dass der Thron und Frauen nur Verdruss bringen. Aber die Konsequenz, dass Verzicht die beste Lösung wäre, zieht niemand. Drei Paare finden sich nach emotionalen Turbulenzen und dem Ehrgefühl geschuldeten Zickigkeiten, wenn Boris Goudenow endlich freien Weg zum Zarenthron hat. Ihm ist seine Tochter Axinia ebenso Mittel zum Zweck wie alles andere.

Trotz der Eingriffe Renshaws bleibt vieles unklar. Aber die Problembewältigung der Figuren gestaltet sich höchst unterhaltsam. Lisa Moro macht einen langen Konferenztisch zum Mittelpunkt der Bühne. Der dient bei Verzweiflungsanfällen als Armstütze oder als Laufsteg für politische und erotische Strategiemaßnahmen.

Szenenbild aus „Boris Goudenow“: Sebastian Songin (Bogda)
Szenenbild aus „Boris Goudenow“: Sebastian Songin (Bogda)

Russische Klischees wie im Kabarett

Wie oft in der Barockoper sind die Verhaltensformen bei Mattheson standardisiert wie in der Tagesschau. Russland wird erkennbar durch nationale Klischees mit kabarettistischer Prägnanz: Also schneit es, wenn Wolken am Seelenhorizont aufziehen. Der Wodka-Konsum schnellt bei fallendem Gefühlsbarometer immer drastisch in die Höhe und alle tragen Pelz. Der stumme Diener Bogda (Sebastian Songin) sorgt für leise Schwanensee-Elegie mit einem Spitzentanz-Solo. Die Kostüme von Anna Ignatieva überschreiten gelegentlich die Grenze zur Karikatur: Einer der Freier trägt Tiroler Lederhose und Turnschuhe in Gold. Es bleibe dem Publikum überlassen, wer da an die Russenmafia am Wörthersee oder an Instagram-Offerten denkt.

Trockene musikalische Effekte

Wenn Mattheson die Macht der Liebe beschwört, werden die Figuren unter delikat ausgearbeiteten Spleens wahrhaftig. Nach der Szene, in der sie sich um den sterbenskranken Zaren tummeln, bleibt die Musik Hauptsache. Das Ensemble Concerto Theresia lebt sich, oft penetriert vom manchmal monochromen Cembalo, vor allem in den etwas längeren Orchesterstücken aus. Andrea Marchiol lässt sie in den vitalen Arien des Händel-Konkurrenten, Musiktheoretikers und -schriftstellers Mattheson fein ziseliert, oft trocken agieren. Kräftige Effekte wie in den Gänsemarkt-Opern von Keiser, Telemann und Graupner bleiben ausgerechnet bei dieser Mattheson-Entdeckung in Innsbruck ungenutzt. Die mit schlanker Tongebung gestaltenden Solisten hätten etwas Befeuerung vertragen können. Übergänge von musikalischer Sicherheit in bohrende oder eloquente Passagen verliefen mehrfach zögernd. Oder entstand dieser Eindruck vielleicht deshalb, weil Kenner von Sergej Prokofiew „Iwan der Schreckliche“ oder Modest Mussorgskys musikalischem Volksdrama „Boris Godunow“, das den schlimmen Ausgang der Aktion Goudenow zeigt, sich nur schwer an Matthesons feinere Stilistik gewöhnen können?

Szenenbild aus „Boris Goudenow“: Sreten Manojlovic (Fedro), Alice Lackner (Olga), Joan Folqué (Gavust), Yevhen Rakhmanin (Theodorus) & Sebastian Songin (Bogda)
Szenenbild aus „Boris Goudenow“: Sreten Manojlovic (Fedro), Alice Lackner (Olga), Joan Folqué (Gavust), Yevhen Rakhmanin (Theodorus) & Sebastian Songin (Bogda)

Boris selbst und Fodor sind die beiden Basspartien, haben allerdings bei weitem noch nicht das dramatische Gewicht der großen Fachpartien des 19. Jahrhunderts. Sreten Manojlović zeigt, wenn er als Fedro die Witwe des sterbenden und Schwester des neuen Zaren erobert, sogar mehr profunde Kraft als der wendige und baritonale Oliver Gourdy in der Titelpartie. Dem nimmt man dafür das strategische Chargieren ab. Gourdy singt mit schon machiavellistischer, verblüffender Nonchalence. Er macht bedauern darüber, dass es im Barockrepertoire nur wenige spannende Basspartien gibt wie diesen Boris Goudenow.

Die Frauen sind jede auf ihre Weise stark: Julie Goussot als Axinia ist eine noch minimal kindliche Quertreiberin und Alice Lackner eine Fürstin Olga mit kühlem Feuer. Flore van Meerssche spielt die Zarengattin bzw. -witwe Irina als Wodka-Drossel. Eric Price (Josennah) und Joan Folqué (Gavust) ähneln sich als fremde Prinzen stimmlich sehr, was von der Regie (leider) nicht zu gröberen Spielen genutzt wurde. Renshaw und Marchiol hätten sich weitaus stärker auf die persönlichen Physiognomien des Ensembles einlassen können, welches am Ende mit vielen Jubelfontänen gefeiert wurde. Nach der fulminanten Wiederentdeckung von Pasquinis „Idalma“ folgt kommende Woche als dritte Musiktheater-Produktion der 45. Innsbrucker Festwochen der Alten Musik noch Telemanns „Pastorelle en Musique“. Im 12. Cesti-Gesangswettbewerb stellen sich die Teilnehmer bis zum Finalkonzert am 29. August auch den Herausforderungen von Carlo Pallavicinos „L’amazone corsara“ für Barockoper Jung 2022.

Szenenbild aus „Boris Goudenow“: Yevhen Rakhmanin (Theodorus) & Alice Lackner (Olga)
Szenenbild aus „Boris Goudenow“: Yevhen Rakhmanin (Theodorus) & Alice Lackner (Olga)

Innsbrucker Festwochen der Alten Musik
Johann Mattheson: Boris Goudenow oder Der durch Verschlagenheit erlangte Thron oder Die mit der Neigung glücklich Verknüpfte Ehe

Weitere Termine: 20., 22. & 24.08.2021

Andrea Marchiol (Musikalische Leitung), Jean Renshaw (Regie und Bühne), Lisa Moro (Mitarbeit Bühne), Anna Ignatieva (Kostüme), Leo Göbl (Licht) – Olivier Gourdy (Boris Goudenow, Statthalter), Julie Goussot (Axinia, Tochter des Boris), Sreten Manojlović (Fedro, Bojar), Yevhen Rakhmanin (Theodorus Iwanowitz, Zar), Flore van Meerssche (Irina, Zarin und Schwester des Boris), Alice Lackner (Olga, eine Fürstin), Eric Price (Josennah, ausländischer Prinz), Joan Folqué (Gavust, ausländischer Prinz), Sebastian Songin (Bogda, des Boris Diener)

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