Mild gelblicher, warmer Kerzenschein erfüllt die Bühne. Sanft zündelnde Flämmchen flackern zwischen Bühne und Orchestergraben. Sogar der Schnürboden hängt voller Paraphinkerzen. Das Deutsche Theater Göttingen verwandelt sich anlässlich der Eröffnungspremiere der Internationalen Händelfestspiele in ein veritables Opernhaus des Barock. Soviel echter Zauber der Händelzeit ist kaum je auf einer heutigen Bühne zu bestaunen. Für die rein musikalische Seite ist in Barockdingen die historische Aufführungspraxis längst eine Selbstverständlichkeit. Romantischer fetter Händelklang wäre wahrlich ein Graus. Aber funktioniert es, auch die Inszenierung von Händels später Oper Imeneo aus der Ästhetik ihrer Entstehungszeit heraus anzugehen? Also nicht nur das Licht, sondern auch Kostüme, Perücken, Gesten, Bewegungen und Haltungen so zu rekonstruieren, wie es mutmaßlich zu Händels Lebenszeit üblich war?
Historische Aufführungspraxis führt auch szenisch zu ganz neuen Erkenntnissen
Wirkt das Ergebnis auf uns heute allzu statisch und unpassend, gar lächerlich und peinlich? Viele der eigens aus England angereisten Journalistenkollegen sehen es eben so. „Unseren“ Händel, der als Wahl-Londoner ja eigentlich „Ihr“ Händel ist, müsse man doch durch einen beherzten psychologischen Regie-Zugriff realistisch deuten und dynamisieren, beleben und aktualisieren. Die just von London ausgegangene Wiederentdeckung von Händelopern, die dann von Intendant Peter Jonas nach München importiert wurde und schließlich zu einer europäischen Bewegung wurde, sah schließlich eben darin den Königsweg und frischte den Operndiskurs damit seit den 80er-Jahren fulminant auf. Witzig freche, auch dekonstruierende Ansätze dominieren.
Hand aufs Herz, Zeigefinger zum Himmel – Königsweg durch Mickeymousing
In Göttingen aber heißt es nun: Back to the roots! Kulissentheater wie aus dem Barockbilderbuch. Auftritte mit erhobenem Zeigefinger, der senkrecht nach oben gestreckt wird, wenn der Himmel besungen wird, der auf das eigene Herz weist, wenn es um gar schwere Entscheidungen in Liebesdingen geht. Arien werden ganz komod mit Standbein vorgetragen, nur im Zwischenspiel von A- und B-Teil einer Da Capo-Arie gibt es – passend zum Wechsel des Affekts – einen Bewegungsimpuls. Was die englischen Kollegen der schreibenden Zunft an diesem Abend bestenfalls komisch fanden, erschien uns bei der Premiere so herzerweichend wie hinreißend. Wie hier Musik die Szene auslöst und Szene die Musik bedingt, ist zwar zunächst höchst artifiziell und manieriert. Man könnte auch sagen: auf ziemlich übertriebende Art tuntig. Viele Gesten folgen wie bei Walt Disney einem die Ebenen doppelnden und verdreifachenden Mickeymousing. Eingefroren sehen die Szenen wie jene Barockgemälde aus, die wir beim Museumsbesuch gern links liegen lassen, um gleich den angesagten Renaissance-Meistern unsere ungeteilte Aufmerksamkeit zu schenken.
Zeichenhaft antipsychologisches Zeige-Theater – befreite Sänger
Hier aber wird der barocke Manierismus lebendig, hier entstehen Zusammenklänge von Musik, Text und Gestik, die das Artifizielle transzendieren zu einer Natürlichkeit der anderen Art. Das zeichenhaft antipsychologische Zeige-Theater gewinnt eine unerhört subtile Kraft des Berührens und Aufeinander-Verweisens. Auf seltene wie seltsame Weise wird die Oper plastisch und verständlich. Alles fügt sich organisch ineinander. Alles fließt. Alles stimmt auf einmal. Nichts geschieht zufällig. Keine Geste ist austauschbar oder beliebig. Der Abend ist in höchster Präzision durchchoreografiert. Sigrid T’Hooft, Regisseurin und Choreografin in Personalunion, hat schon öfter den Versuch unternommen, ihr immenses Wissen in Barockgestik und Barocktanz zum Wohle einer gleichsam historisch informierten Inszenierung einzusetzen. Bei Händels Imeneo gelingt es der Belgierin großartig, weil sie mit den wunderbaren Sängern in einer fantastischen Liebe zum Detail gearbeitet hat. Die Sänger wirken im scheinbaren Korsett des barocken Gesten-Repertoires wie befreit und beflügelt. In großer Ruhe und absoluter Bewusstheit entwickeln sie eine Körperspannung, die ihnen das Singen von all den Händel-Hits ganz leicht zu machen scheint.
Hoch lebe die Vernunftehe!
An der Spitze eines herrlich harmonierenden Ensembles thront die über dreieinhalb Händelstunden zwischen zwei Männern stehende Rosmene der Anna Dennis. Der lyrische Liebreiz ihres sehr wohl expansionsfähigen Soprans hat golden geläufige Geschmeidigkeit und dieses gewisse Etwas, das man Timbre nennt, persönliche Farbe, Einmaligkeit. Ihre zwei Männer hat Händel mit maximaler Kontrastdynamik ausgestattet: Tirinto, einst Kastrat, heute Countertenor, ist der stimmlich ideal mit dem Sopran seiner Angebeteten harmonierende Warmduscher-Liebhaber, dem James Laing viel vokale Sanftmut angedeihen lässt. Der virile Imeneo indes ist ein potenter Bariton, dem William Berger großes Format und vokale Wendigkeit schenkt. Zum seltsam frühaufklärerischen, irgendwie gebrochenen Happy End schenkt sie – unter romantischem Blickwinkel jedenfalls – just dem Falschen, also dem Mann mit der tiefen Stimme, ihr Herz. Hoch lebe die Vernunftehe! Die koloraturzwitschernde Stefanie True als Rosmenes Gefährtin Clomiri und der mit perfekter Diktion aufwartende Bass Matthew Brook als die Liebesdinge strategisch ordnender Vater vervollständigen das Ensemble dieses großen Händel-Abends, dem Tänzerinnen und Tänzer von Sigrid T’Hoofts Tanzgruppe Corpo Barocco eine weitere Kommentarebene verleihen, wozu in die Produktion der Oper Tänze aus Händels Wassermusik und Concerti grossi einfügt wurden.
Bei allem Bemühen um historische Korrektheit meidet die Inszenierung doch jede ideologische Engstirnigkeit. Es gibt viele Momente feiner Ironie, subtiler Kontrapunkte und klugen Humors. Immerhin nennt Händel, hundert Jahre vor der Erfindung der gleichnamigen Gattung, seinen Imeneo eine „operetta“. Eine handliche, auch im Vokalen von sportiven Koloraturwettkämpfen entschlackte „kleine“ Oper sollte es werden. Da der Stern der italienischen Oper am Ende von Händels Karriere als Opernkomponist längst am Sinken war, sollte ihr zu Lebzeiten des Meisters freilich kein Erfolg beschieden sein. Die Wiederentdeckung in Göttingen kommt da einem Meilenstein gleich. Zum Erfolg trägt entscheidend das Festspielorchester bei, das mit einer so ideal austarierten farbenfrohen Üppigkeit zu Werke geht, dass es eine Wonne ist. Laurence Cummings am Pult kann sich glücklich schätzen. Sein Publikum ist es ohnehin.
Händel: Imeneo
Laurence Cummings (Leitung), Sigrid T‘Hooft (Regie & Choreografie), Stephan Dietrich (Bühne & Kostüme), William Berger, James Laing, Anna Dennis, Stefanie True, Matthew Brook, Corpo Barocco, Festspielorchester Göttingen