Dieser große Dichter, der so gern auch ein großer Liebender wäre, müsste als Opernfigur eine traumhafte Stimme haben, somit nicht einfach nur ein gutaussehender Tenor in den besten Mannesjahren sein. Die Stimme dieses Herrn namens Hoffmann müsste schmelzend und schmeichelnd sein, über ein betörendes Timbre und eine reiche Farbpalette verfügen, ein edelsüßes Piano und eine potente Durchschlagskraft im Forte gleichermaßen besitzen und – der Dichter ist zwar Deutscher, singt allerdings in einer französischen Oper von Offenbach – er müsste seine vollendete Gesangskunst mit der Voix mixte adeln, jener edlen Abmischung und Abstimmung von Kopf- und Bruststimme, die dem romantischen Repertoire der französischen Oper seinen ganz spezifischen, aristokratisch jungmännischen Duft und Charme verleiht. In aller Regel bleibt dieser Anforderungskatalog in Aufführungen von „Les Contes d’Hoffmann“ ein idealisierender Wunschtraum von Opernverrückten.
Eine Tenor-Sternstunde für die Geschichtsbücher: Benjamin Bernheim gastiert in Hamburg
Doch es gibt sie eben doch noch, ja, es gibt sie wieder, die Sternstunden, an denen ein weltweit heiß begehrter Tenor den Weg an die Hamburgische Staatsoper findet. Er heißt Benjamin Bernheim – und er erfüllt den langen Katalog des Könnens mit traumwandlerischer Leichtigkeit. Zugegeben: Man kann den Hoffmann anders singen. Neil Shicoff etwa hat ihn in Hamburg und an allen großen Häusern immer gern am Anschlag gesungen, als manischen Grenzgänger, der auch die eigenen stimmlichen Grenzen testet und damit die Figur eines Künstlers zeichnet, der im wahnhaften Zwischenreich von Idealität und Realität seine Bestimmung sucht – und nicht finden kann. Da wurde Hoffmann zum jüngeren Bruder eines Tannhäuser. Benjamin Bernheim wirkt da als Hoffmann deutlich weniger gefährdet. Sein Hoffmann hat sich trotz des ungehemmtem Alkohol(ein)flusses in Luthers Bar seine guten Manieren bewahrt. Seine Manie für die Frauen ist dennoch ungebremst. In die zahlreichen Exemplare des schönen Geschlechts, in die er sich immer wieder unsterblich verliebt, projiziert er – wie für einen großen Dichter der Romantik durchaus angemessen – seine Vorstellungen von Weiblichkeit, die freilich mit dem wahren Wesen der mehr oder weniger holden Damen wenig gemein haben. Da muss er also immer wieder an den Frauen (oder doch eher: an sich) scheitern. Sei es nun die als menschliches Geschöpf gar nicht echte Automatenfrau Olympia, die Sängerin Antonia oder die Kurtisane Giulietta.
Eine Sängerin für alle Geliebten des Dichters: Olga Peretyatko kehrt dahin zurück, wo sie ihre Karriere begann.
An der Dammtorstraße werden alle von Hoffmann begehrten Damen von einer einzigen Sängerin verkörpert: Olga Peretyatko. Von 2005 bis 2007 war die Russin noch Mitglied des Internationalen Opernstudios der Hamburgischen Staatsoper. Dann startete ihre enorme Karriere als Koloratursopran. Da stellt sich wie bei vielen Vertreterinnen ihres Fachs irgendwann die Frage, ob sie ihrem Fach, das für extra agile Vokalakrobatik steht, für immer treu bleiben oder Ausflüge in lyrische und dramatische Soprangefilde wagen soll. In Hamburg riskiert sie nun die maximale Herausforderung, indem sie alle drei, nimmt man die Stella der Rahmenakte hinzu, sogar vier Partien unterschiedlicher Fächer an einem Abend singt. Gleichsam zu Hause ist sie als Olympia, singt die Koloraturen leichtgängig und mit schönen Pianostufungen in den Wiederholungen der Phrasen. Die schwebenden Lyrismen und langen Linien der Antonia wirken da schon deutlich anstrengender erarbeitet denn vollends durchdrungen. Die tiefe Tessitura der Giulietta – die Partie wir mitunter auch von Mezzi gesungen – lässt ihren höhentrainierten Sopran dann nur schwer anspringen. Da bewundert man den Mut der Sängerin, ganz glücklich macht die vokale Mehrfachbelastung nicht. Die üblicherweise indes von einem einzigen Bassbariton verkörperten Bösewichte des Stücks sind bei Luca Pisaroni in guten Händen (an die ihm Kostümbildnerin Giovanna Buzzi nicht enden wollende Vampirfinger gepappt hat). Der gefragte Mozartsänger hat nicht die diabolisch dunkle Stimmfärbung für Lindorf, Dr. Miracle & co., wie sie ein Ruggiero Raimondi einst idealtypisch besaß. Seine Erotik des Bösen ist subtiler, sie kommt wie bei Benjamin Bernheim mehr aus der stilistisch subtilen französischen Schule einer kultiviert schlanken Tonbildung. Hamburgs GMD Kent Nagano macht Offenbach zur Chefsache, er kennt sich mit französischem Odeur ja auch gut aus, nur will sein Philharmonisches Staatsoper die duftige Raffinesse und Eleganz von Offenbachs Musik zur Premiere noch nicht mit der nötigen Inspiration versehen.
Die Poesie und Fantasie von Daniele Finzi Pasca und seiner Truppe
Die im Wortsinne fantastische Oper Offenbachs nun allerdings Daniele Finzi Pasca und seiner Truppe zur Inszenierung anzuvertrauen, scheint perfekt zu passen. Denn die in der italienischen Schweiz ansässige Compagnie schüttet gern ein ganzes Füllhorn der Fantasie auf die Bühne, in der sie die Darsteller auch mal gern die Schwerkraft verlassen und in den Bühnenhimmel entschweben lässt. Mit seinen zwischen Akrobatik, Tanz und Schauspiel irrlichternden Künstlern hat Pasca die Eröffnungen mehrerer Olympischer Zeremonien ebenso in Szene gesetzt wie Shows von Cirque de Soleil. Die Spektakel der Italo-Schweizer stehen somit für großes magisches Musiktheater. In einigen Bildern voller Poesie ereignet es sich nun auch am Hamburger Stephansplatz. Unerhört treffend für den Zustand der eingesperrten kranken Sängerin Antonia ist ihr Turmzimmer, in dem lauter aufgespießte Schmetterlinge die Wände zieren – das Kostüm des zarten Flattertiers trägt auch sie. Die schöne Seele ihre verstorbenen Mutter fliegt derweil als weißer Schmetterling vorüber. Giuliettas Venedigakt ist da schon eher prunkvolles Ausstattungstheater: In einem riesigen Spiegel erblicken wie die Drehbühne ein zweites Mal, die den Löwen von Venedig mit den Tierkreiszeichen auf einer riesigen Scheibe zusammenführt. All dies üppig dekoriert mit den Chorsängern, die als Tauben gewandet die abertausendfach präsenten Vögel der Serenissima darstellen.
Angela Brower ist und singt die Muse
Wenn Hoffmann dann am Ende als liebender Mann gescheitert ist, siegt ein anderer Mensch, ja die Macht und Magie der Musik. Angela Brower singt Hoffmanns Muse nicht nur, sie ist sie. Mit ihrem sopransonnenhell klaren, wunderbar musikalisch intelligent geführten Mezzo ist die Muse meist doppelt präsent: als Sängerin, die als männlich verkleideter Freund Nicklausse ihren Hoffmann begleitet, als Tänzerin, die als personifizierte Muse durch die Lüfte schwebt. Ach, man wünscht diesem unstet liebenden großen Dichter Hoffmann, dass er einst die Reife erringen möge, sich dieser Frau würdig zu erweisen. Dann würde aus dem großen Dichter auch ein großer Liebender.