Sie flüstert und sie schreit. Sie lacht ekstatisch und sie atmet vernehmlich. Ja, Aušrinė Stundytė singt auch noch grandios – in allen nur denkbaren Intensitätsgraden ihres mit den Jahren immer weiter gereiften, nachgedunkelten und dennoch immer noch drahtigen Soprans, der in einem grazilen, mädchenhaften Körper steckt. Und, dafür wird sie (international spätestens seit ihrer Strauss-Elektra bei den Salzburger Festspielen) gerühmt: Sie wandelt sich ihre Figur in einer kompromisslosen Totalität an, dass man für die litauische Sopranistin den Begriff der Sängerdarstellerin eigentlich neu erfinden müsste. Eine andere Katerina, alias Lady Macbeth von Mzenk, jedenfalls ist gerade hier am Grand Théâtre de Genève in der Inszenierung von Calixto Bieito überhaupt nicht denkbar. So sehr liefert sich Stundytė der titelgebenden Frauenfigur aus, dass man nichts als grenzenloses Mitleid mit dieser dreifachen Mörderin haben muss, deren Befreiungsakte in einer von Moral längst befreiten, brutal verrohten, von Testosteron übersteuerten männlichen Mehrheitsgesellschaft schlichtweg zwingend erscheinen.
Inseln des wahren Lebens im falschen
Die extrem physische Arbeitsweise des katalanischen Regisseurs und die körperliche, seelische wie stimmliche Hingabe der Sängerin finden in der Tat ideal zusammen. Und sie harmonieren perfekt mit einem Werk, das zwar berückend schöne sehnsuchtsvolle Stellen hat, aber ansonsten durch seine illusionslose Härte erschüttert. Inseln des wahren Lebens im falschen mag es zumindest für kurze (meist erotische bedingte) Frist geben, doch sie werden doch alsbald vom Strudel übergriffiger sexueller Leidenschaften, Besitzansprüche und Perversionen überspült. Am Ende bleibt – nichts. Glaube, Liebe, Hoffnung mögen in der Bibel noch ihren Platz haben, doch selbst das Buch der Bücher wird in diesem Ambiente bestenfalls für die Bestätigung des Gegenteils seiner hehren Botschaft gebraucht, ja, missbraucht.
Die niedersten Instinkte der Gattung Mensch
Das Stück gleicht einer Steilvorlage für Calixto Bieito, der von der Skandalnudel des Regietheaters (man denkt da an seine vor Gewaltorgien berstenden Inszenierungen in Hannover vor 20 Jahren) in der Mitte des Musiktheater-Systems angekommen zu sein. Das liegt nicht nur an gewissen Gewöhnungseffekten des Publikums hinsichtlich von spritzenden Körpersäften und naturalistisch nachgestellten Perversionen, es hat auch mit der gewachsenen Bereitschaft von Sängerinnen und Sängern zu tun, an die eigenen (Komfort-)Grenzen zu gehen. Aušrinė Stundytė gehört zur Speerspitze dieser Sängergeneration, das ganze Genfer Ensemble (einschließlich des grandiosen Chores des Grand Théâtre de Genève) indes ist bereit, sich auf Bieitos krasse Wünsche einzulassen. So konfrontiert uns dieser Musiktheaterabend in aller Deutlichkeit mit den niedersten Instinkten der Gattung Mensch.
Postindustrielle Tristesse ersetzt bäuerliches Umfeld
Rebecca Ringst hat dem Regisseur dazu eine Gerüstinstallation auf die Bühne gehievt, wie sie so oder ähnlich manche ihrer gemeinsamen Inszenierungen ausmacht. Das passt bestens zur realistischen russischen Tragödie, für die Dmitri Schostakowitsch unverblümt blechbläserpotent komponierte Geschlechtsakte ebenso ersann wie schneidend scharfe satirische Momente für die alten Autoritäten des Systems, den Popen oder die Polizei. In dieser postindustriellen Tristesse, die das bäuerliche Umfeld des Librettos ersetzt, gehen zwar noch (männliche) Arbeiter zu Werke, Wertschöpfung scheint ihr Tun aber nicht mehr hervorzubringen. Hier hat ein gesellschaftlicher Mikrokosmos sichtlich sein Endstadium erreicht. Interessant in der Schwebe lässt das Regieteam dabei, in welchem Land sich das Geschehen abspielt. Es könnte Russland ebenso sein wie die USA, wo einstige Automobilmetropolen wie Detroit der Verwahrlosung preisgegeben sind und auch von hohlen Parolen des „Make America great again“ mitnichten profitiert haben. Der Seniorchef dieser Anlage legt nahe, dass der Posthumanismus und das postindustrielle Zeitalter kein Vorrecht der einen oder anderen Großmacht sind. Dieser Boris trägt jedenfalls Stiefel und Hut der amerikanischen Cowboys, dazu den Krawattenersatz der Bolo tie, wie er gern auf den Farmen jener Flyover country getragen wird, in denen die markigen Sprüche eines einstigen Präsidenten Trump auf überaus fruchtbaren Boden fallen. Dmitry Ulyanov gibt diesem üblen Patriarchen die bassgeschmeidige Hinterlist eines schwammigen Schweins von Mann. Zu dumm, dass ihm Katerinas Pilze so gut schmecken. Denn diesmal hat sie Rattengift hineingemischt. In famoser filmischer Drastik zeigt Bieito, wie dieser Boris versucht, dennoch sein Leben zu retten, indem er mit zwei Fingern im Schlund das eigene Übergeben zu provozieren. Zu spät: Er stößt nur noch Blut auf.
Kinematografische Eindeutigkeit
Noch heftiger unter die Haut gehen die Szenen, in denen der Regisseur vorführt, wie eine enthemmte Männlichkeit sich am weiblichen Geschlecht vergeht. Vergewaltigungen muss man durchaus nicht so zeigen, doch die in dieser Hinsicht überdeutliche Musik legitimiert solche Regieentscheidungen. Im Ergebnis hört man dann sogar umgekehrt besonders stark, mit welcher kinematografischen Eindeutigkeit Schostakowitsch hier komponiert hat. Als einseitige Kritik an männlicher Hormonsteuerung ist der Abend dabei nicht zu verstehen. Beim finalen Gang ins Arbeitslager (nachdem Katerinas Morde am übergriffigen Schwiegervater und impotenten Ehemann entdeckt wurden) zeigt der Katalane, dass in diesem Umfeld auch das weiblich weiche Geschlecht seine Empathiefähigkeit einbüßt. Jedenfalls kann sich Katerina nach der letzten Demütigung durch ihren Geliebten (der ihr ihre wärmenden Strumpfhosen abluchst, um sich sexuelle Vorteile bei ihrer Nachfolgerin zu verschaffen) keinesfalls auf ihre Geschlechtsgenossinnen verlassen. Erniedrigung passiert hier allenthalben und in allen denkbaren sexuellen Konstellationen und Stellungen.
Gustav Mahler-Momente der Sehnsucht treffen Blechbläsersalven
So packend die Szene, die in Katerinas Solonummern auch zu feiner Psychologie findet, so hoch differenziert gerät die musikalische Seite des Abends. Alejo Pérez ist ihr famoser Anwalt. Der Dirigent, der in Genf bereits mit seiner klugen Sicht auf „Krieg und Frieden“ begeisterte, lotet die Extreme der Partitur vorbildgebend aus. Von so nur selten gehörter Zartheit sind die Gustav Mahler-Momente der Sehnsucht, in denen wir die andere Seite der Katerina kennenlernen. Um so krasser lässt der Maestro es mit dem Orchestre de la Suisse Romande krachen, wenn es eindeutig zur Sache geht. Dann hat er die Blechbläser direkt hinter Katerinas billigweiß pseudoschicke, steril kühl ausgeleuchtete Wohnküche platziert, was zu enorm direkten Klangeruptionen des Blechs führt. Das Ensemble könnte besser, pointierter, von seiner Aufgabe entflammter nicht sein: Präzise zwischen Charakter- und Heldentenor changierend John Daszak als verklemmter Verwalter Sinowi, der seiner Frau Katerina so gar nichts von dem bieten kann, was sie sich körperlich erhofft. Ladislav Elgr als viriler tenoraler Grenzgänger Sergei, dessen sexueller Appetit keine Grenzen und Regeln zu kennen scheint. Besetzungsluxus herrscht bis hinein in die kleineren Partien: Alexander Roslavets als Pope war an der Staatsoper in Hamburg zuletzt bereits als bassmächtiger Boris zu erleben. Der Abend in Genf hallt nach. Zum Schlussapplaus kommt das Regieteam einschließlich Maestro Pérez dann in Gummistiefel auf die Bühne: Denn der Schlamm auf der Bühne vor Katerinas weißer Stube ist als infernalisches Fango scheinbar so „echt“ naturalistisch wie diese ganz vor filmischer Konkretheit berstende Inszenierung.
Grand Théâtre de Genève
Schostakowitsch: Lady Macbeth von Mzensk
Alejo Pérez (Leitung), Calixto Bieito (Regie), Rebecca Ringst (Bühne), Ingo Krügler (Kostüme), Michael Bauer (Licht), Bettina Auer (Dramaturgie), Allan Woodbridge (Chor), Aušrinė Stundytė, Dmitry Ulyanov, John Daszak, Ladislav Elgr, Julieth Lozano, Kai Rüütel, Michael Laurenz, Alexander Roslavets, Alexey Shishlyaev, Louis Zaitoun, Chor des Grand Théâtre de Genève, Orchestre de la Suisse Romande