Nach einer blutig-schmalspurigen Vampyr-Inszenierung liefert die Komische Oper Berlin jetzt wieder eine mitreißende Ensembleleistung mit all dem hier gewohnten Musiktheater-Glanz und Gloria – den Markenzeichen des Hauses. Dazu schlägt sie in der deutschen Erstaufführung von HK Grubers Geschichten aus dem Wiener Wald nach Ödön von Horváths Schauspiel gleichsam eine Faust ins Auge des zunehmend gewaltbereiten Mitteleuropa. Die bewegende Musik der 2014 bei den Bregenzer Festspielen uraufgeführten Oper ist – wenn man das so glänzend hinbekommt wie hier – von ebenso abgründiger Brisanz wie1931 das Schauspiel, als dieses „Wiener Volksstück gegen das Wiener Volksstück“ (Erich Kästner) am Deutschen Theater Berlin herauskam. Berlin liegt dann tatsächlich im „Wiener Wald“ wie alle Orte im „Café Europa“, wo Gewissheiten und Orientierungen kippen. Nicht nur im hier messerscharfen Figurenarsenal aus dem Kleinbürgertum.
Stilfetzen und heruntergewirtschaftetes Liedgut
HK Gruber griff da einfach zum richtigen Sujet für seine immense kompositorische Potenz. Hendrik Vestmann schwingt sich am Pult ganz selbstverständlich ein in die rhythmischen Vertracktheiten, die emotiven Saxophon-Soli und schrägen Walzertöne des verstimmten Beisel-Klaviers in der rechten Proszeniumsloge. Da bringt HK Gruber alle Mittel versierter Musiktheater-Komposition auf’s Tablett zu einem pervertierten Orchesterschmankerl. Diese Überfülle von Einfällen hat es in den Ensembles, im Parlando und im Schweigen der beklemmenden Pausen, in denen der erlösende Widerspruch gegen einen Kindsmord in Raten einfach nicht kommt.
Über allem schweben motivische Fragmente des vielstimmigen Sehnsuchtsprologs, dieses gemütvolle Liedgut vom „Mädel in der Wachau“ wrackt im Fall der Handlung ab zum Animierschuppen-Sound. Diese von Strawinsky und vor allem von Weill gelernten Stilfetzen belässt HK Gruber indes nicht nur in collageartiger Reihung. Er schiebt Vokalparts in ein verhackstücktes Klangidiom, die Figuren gerinnen zu Klischees: Was da noch Gefühl, was da Kalkül, was da noch Gefühlsstrom ist oder der in Sehnsucht nach Identität ergriffene Strohhalm, wer vermag’s zu ergründen? Der Walzer hat ausgedient als Glamour-Rausch, ist nur noch die Schiebernummer für Kurzzeit-Paarungen.
Mariannes erledigter Ausbruch
Am Ende steht sie derangiert vor der Digicam ihres „Fleisch ist geil“-Verlobten Oskar, von dem sie am Verlobungstag davonläuft: Die derangierte Marianne mit blutverschmiertem Gesicht, ihr Kind tot. Und der Oskar freut sich über den tollen Schnappschuss der so Wiedergewonnenen. Nicht sadistisch, sondern herzlich. Da setzt der polnische Regisseur Michal Zadara bei seinem deutschen Operndebüt der Horváthschen Finaltristesse noch eins drauf: Der sensible Metzger und Freizeit-Rockbarde braucht in der Komischen Oper seine Marianne nicht als willenloses Liebesobjekt, sondern – viel perfider – als Beute und Fetisch. Cornelia Zink spielt ein „süßes Mädel“ von heute: Sie ist sowas von proper in der Jeans- und Sneaker-Montur, sowas von tough im Mut zum Partnerwechsel mit dem windigen Alfred. Aber auch sowas von kleinmütig, wenn sie merkt, dass sich nur das Auto ändert und sonst gar nichts. Schließlich ist sie eine gottverlassene arme Sau, wenn der Vater sie im Pornoschuppen als missratenes Gör abwaffelt. Eine ganz großartige Leistung liefert Cornelia Zink da als Marianne mit einer Sehnsucht nach dem intelligenten Lover und sonst nur vagen Vorstellungen von Leben. Am Ende hat sie nicht einmal mehr diese Vision. Die Sängerdarstellerin mit der starken Persönlichkeit modelliert ein schmerzliches No-name-Schicksal.
Haltepunkte der Abgehängten
Vom alternativ Menschenmöglichen bleibt nur Plastikgekröse, zu dem die warenweltlichen Verheißungen geschreddert sind: Casual meint in den typgerechten Kostümen Julia Kornackas tatsächlich nur Casual, keine Symbole dahinter. Das steckt alles schon in der Vorlage. Ja, bei Horváth ist das Milieu wenigstens noch Milieu, wenn auch mit nervender Enge und ranziger Nestwärme. In der Oper sind die Figuren aus dem Wiener Wald längst schon gestrandet an den Haltepunkten einer mobilen Gesellschaft, deren Mobilität sie gerade noch als aussortierte Beobachter wahrnehmen dürfen. Das hat Michael Sturminger in seiner Libretto-Einrichtung geschärft. Robert Rumas versetzt uns dazu in fotorealistische Erlebnisräume für jedermann. Raus aus dem Online-Paradies, hinein in dessen reale Retro-Abhalfterungen. Zu Beginn ist es ein Autoparkplatz mit Sonnenfläche und Blick auf eine ICE-Brücke, dazwischen das verführerische Donauglitzern im begradigten Flussbett.
Später spinnt die „Trafikantin“ Valerie vor ihrem „Central Oil“-Tankshop die erotischen Unersättlichkeiten aus dem Ferienparadies fort. Ursula Hesse von den Steinen gibt die eingebildete Szene-Königin ohne Hofstaat einerseits, ohne Glück von Dauer andererseits. Ihre Tankstelle ist ein Tummelplatz, wo Valerie mit Edelmezzo und Privatdarlehen ihre Männerbeziehungen an- und abschiebt. Halbstarke machen mit Groupies die Motorradsitze konsequent zu „Nagelbänken“. Unter dem rechtspopulistischen Wahlplakat verzweifeln die Kerle an den Frauen. Ein „Beichtmobil“ – Kennzeichen Vechta – verheißt Tröstung und Rettung für‘s Gemüt. Die turboscharfen Autos mit Berliner Nummern bleiben dann doch der Prestige-Speed für’s leere Leben. Und überall gleiten die Warenströme vorbei wie ein langer, stiller Fluss. Sogar die Kleingärten, wo Karan Armstrong Alfreds Großmutter mit vom Leben ausgezehrten Tönen ausstattet, sind in Steinwurfnähe eines Logistikzentrums.
Verzweifelte Halbstarke
Für die Disco-Jugend markierten – lang ist es her – „Village People“ die Krafttypen des „way of life“ der westlichen Welt. Im Wiener Wald gibt es jetzt davon die zeitversetzten Abziehbilder. Die Gruppe der kernigen Mannsbilder wird ergänzt um den Studenten Erich, der in seiner Verbindungsuniform die ultrarechte Gesinnung unters Volk bringt und dabei aussieht wie ein Zugbegleiter. Michal Zadara lässt sein Ensemble und den katalogkonformen Zusatzchor alles dafür tun, dass dieser todtraurige Realismus nicht an Farbe verliert. Die Backstage-Crew rangiert und schiebt die Autos mit den Solisten darin, schmiert Theaterblut in Mariannes verdroschenes Gesicht. Auf der Bühne gibt es keine Bewegung zu viel für die funktionale Betriebsamkeit dieser Gesellschaft ohne Sinn. Tom Erik Lie als windiger Alfred vereint da, was gefordert ist und trotzdem kaum Erfolg bringt: Mut zum schäbigen Business um jeden Preis, Smartheit, Gleichgültigkeit gegen alle und alles.
Ernste Botschaft lustvoll ausmusiziert
Noch schärfere Kontur gewinnt das dank einer musikalischen Einstudierung, in der (fast) jedes Wort verständlich ist und die Solisten in der Premiere schon hochachtbar sicher sind. Sie alle agieren beklemmend locker. Sei es Adrian Strooper als Fleischer Oskar, hinter dessen Muskelpaket sich ein vokaler Märchenprinz versteckt, oder Jens Larsen als im Frust gestrandeter Bike-Rebell. Oder Stefan Cifoielli als Trendvariante zum Krawatt’l-Zuhälter, der die Marianne vom Hals bis zu den Knien beim „Model“-Casting abfilmt. Die Figuren bleiben in künstlerischer Absicht ohne Tiefenkontur und sind wattiert mit der kleinen Traurigkeit hinter der großen Leere. Christiane Oelze schwingt da als resignierte Mutter Alfreds harm- und kunstvoll zwischen Horváth und Gruber. Das trägt mit bohrender Schärfe und musikalischer Spannung fast drei Stunden. Und es ist kein Widerspruch, dass diese Oper lustvoll ausmusiziert wird. Trotz der ernsten Botschaft hat die Misere einen hohen Genussfaktor.
Komische Oper Berlin
HK Gruber: Geschichten aus dem Wiener Wald
Hendrik Vestmann (Leitung), Michal Zadara (Regie), Robert Rumas (Bühne), Julia Kornacka (Kostüme), Diego Leetz (Licht), David Cavelius (Chöre), Barbary Wysocka, Artur Siernicki (Video), Cornelia Zink, Tom Erik Lie, Adrian Strooper, Ursula Hesse von den Steinen, Jens Larsen, Christiane Oertel, Karan Armstrong, Ivan Turšić, Stefan Cifoielli, Hans Gröning, Orchester der Komischen Oper Berlin
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