Kinder, schafft Neues“, lautete in der Mitte des 19. Jahrhunderts der ästhetische Imperativ eines Richard Wagner. Fraglos sah der von Bescheidenheit kaum angekränkelte Visionär zumal in seinem eigenen revolutionären Gesamtkunstwerk das Ideal des Innovativen verwirklicht. Doch auch jenseits des Bayreuther Meisters wirbelte es seinerzeit nur so vor Uraufführungen. Das Publikum strömte in die Konzert- und Opernhäuser, um musikalische Novitäten zu bestaunen, mochten diese nun von Brahms oder Bruckner im Feld der Sinfonie oder von Verdi oder Wagner im Genre der Oper stammen. Alte künstlerische Kamellen aus Barock und Klassik interessierten die Menschen weitaus weniger. Neugierde bestimmte die Szene, in den Feuilletons wurde eifrig um die Qualität des bislang Unerhörten gestritten.
Davon mag die Musiktheaterszene der Gegenwart noch weit entfernt sein, scheint doch die Reproduktion des kanonisierten Repertoires der Vergangenheit im Fokus des Interesses zu stehen. Von einer neuen Gründerzeit der Oper im 21. Jahrhundert zu schwärmen, mag übertrieben klingen. Doch auffällig wirkt es, dass viele Opernhäuser in der nun beginnenden Saison wieder beherzt auf Wagnisse setzen und die spannendsten Komponisten unserer Zeit mit Aufträgen für neue Opern bedenken, die dann nicht versteckt in den Nischen der Studiobühnen stattfinden, sondern im Großen Haus und mit Regieteams, die aufhorchen lassen. Sechs besonders vielversprechende Uraufführungen dieser Spielzeit stellen wir hier in der Chronologie der Premieren vor.
Von enttäuschten Hoffnungen im Land der unbegrenzten Möglichkeiten
Der Österreicher Johannes Maria Staud hat einen Abgesang auf unsere westliche Lebensweise ersonnen, erzählt nach einem Theaterstück seines Landsmanns Thomas Köck von Anfang und Ende der „Neuen Welt“, indem er drei Handlungsstränge verknüpft: den Goldrausch des zum Mythos geronnenen Eldorado, den vom Drogenrausch begleiteten Zerfall der US-amerikanischen Mittelschicht in den Suburbs der Gegenwart und den Gang eines Sehers durch die Reste einer Machtzentrale in der nicht allzu fernen Zukunft. Operndirektorin Andrea Moses setzt „missing in cantu“ im September in Weimar in Szene.
Auch in „The Strangers“ (ab Ende September in Köln) des 1974 geborenen Amerikaners Frank Pesci geht es um enttäuschte Hoffnungen im Land der unbegrenzten Möglichkeiten: Junge italienische Einwanderer geraten anno 1890 in New Orleans in die Mühlen von Polizei, Justiz und Selbstjustiz – die Opernhandlung folgt einer wahren Geschichte.
Bitterbös Groteskes, verbotene Liebschaften und der Teufel
Der junge katalanische Komponist Hèctor Parra widmet sich mit „Justice“ ab Januar in Genf einer Umweltkatastrophe der jüngsten Vergangenheit, der schweizerische Regisseur Milo Rau setzt sie in Szene: 2019 kollidierte im Kongo ein Säuretransporter mit einem Bus – Entwicklungshilfe, wirtschaftliche Interessen und supranationale Verantwortung geraten in gefährliche Schieflage. Seine dreizehnte Oper bringt der ungarische Erfolgskomponist und Dirigent Peter Eötvös im Februar in Regensburg heraus: „Valuschka“ ist eine bitterbös groteske Parabel über Macht und Übermacht – und berichtet von einer Kleinstadt, in der die Angst vor drohendem Unheil durch die Ankunft eines Wanderzirkus und von allerhand Fremden verschärft wird.
Mit „Die Jüdin von Toledo“ vertont Detlev Glanert ein Libretto von Hans-Ulrich Treichel, das auf dem Trauerspiel des Dramatikers Franz Grillparzer beruht: Es geht um die verbotene Liaison zwischen dem spanischen König Alfonso VIII. und seiner jüdischen Geliebten Rahel – mithin um private Passion kontra politische Pflicht. Regiestar Robert Carsen setzt die Oper im Februar in Dresden in Szene. Das Duo der Dirigentin Elena Schwarz und der Regisseurin Elisabeth Stöppler schließlich zeichnet ab März in Stuttgart verantwortlich für Bernhard Langs „Dora“. Die titelgebende Opernheldin des 21. Jahrhunderts begegnet den Lebensentwürfen ihrer Gegenwart mit kompromissloser Total-Ablehnung, ruft in ihrer Sehnsucht nach dem radikal Neuen gar den Teufel auf den Plan.
Termintipp
So, 23. März 2025 18:00 Uhr
Lang: Dora
Josefin Feiler (Dora), Shannon Keegan (Schwester), Dominic Große (Bruder), Maria Theresa Ullrich (Mutter), Stephan Bootz (Vater), Elisabeth Stöppler (Regie)