Operntanker manövrieren bedächtig. Denn begehrte Primadonnen und gefragte Tenöre gilt es schon mal volle vier Jahre im Voraus zu buchen. Angesagte Regieteams können sich die Aufträge aussuchen. Komplexe Bühnenbilder müssen mit viel Vorlauf geplant und produziert werden. Die Disposition aller Inszenierungen einer Spielzeit, die Premieren und Wiederaufnahmen publikumswirksam kombiniert, bringt die Verantwortlichen der arbeitsteiligen Kunstform nicht selten an den Rand des Wahnsinns. Das Diktum vom „unmöglichen Kunstwerk“ namens Oper ist kein Zufall.
Jedenfalls scheint das fixe Reagieren auf gegenwärtige gesellschaftliche Entwicklungen und Verwerfungen, wie es im Schauspiel üblich ist und selbstverständlich erwartet wird, im Musiktheater schier unmöglich. Doch dann kam die Krise. Gar nicht das schon seit Jahrzehnten beklagte Kränkeln einer sich angeblich überlebten Gattung, deren hierarchische Institutionen mit ihren göttergleich agierenden Intendanten und Generalmusikdirektoren wie aus der Zeit gefallen wirken. Es kam Corona. Und mit der weltweiten Welle des Virus mussten die Opernhäuser schließen – von heute auf morgen, unverschuldet, aber doch mit der zwingenden Herausforderung konfrontiert, sich neu zu erfinden. Nicht gewohnt bedächtig innerhalb von Jahren, sondern mit dem Druck von wenigen Monaten, von Mitte März bis zum Sommer.
Dann, mit Beginn der Spielzeit 2020/21, wurde alles umgekrempelt, alles auf die strengen Abstandsregeln umgestellt – auf der Bühne wie im Zuschauerraum, wo nach dem Vorbild der Salzburger Festspiele dank eines Sitzplans im Schachbrettmuster entweder noch stolze fünfzig Prozent der Plätze besetzt werden dürfen, was dann auch zur Neuinszenierung von Richard Wagners „Die Walküre“ an der Deutschen Oper Berlin sehr gut gelang. Oder aber es steht nur rund ein Viertel aller roten Sessel zur Verfügung, um unter Auslassung einer kompletten Sitzreihe nach vorn wie nach hinten die Distanz von anderthalb Metern einzuhalten. Entscheidender sind die Unterschiede im Inhaltlichen. Denn im gar nicht mehr tankerträgen Neudenken von Spielplänen erweist sich, wo Intendanten und Dramaturgen zu mutigen Visionären mutieren. Und es wird nicht minder transparent, wo sie ganz im Gegenteil als faule Verwalter des Mangels und der Einschränkungen agieren. Gute Zeiten verschleiern das Scheitern, schlechte Zeiten sind gnadenlos: Es drohte die Stunde der Wahrheit.
„Fressen für die Seele“
An die Spitzengruppe der Visionäre unter den Opernmachern setzt sich einmal mehr ein Australier in der deutschen Hauptstadt. Barrie Kosky eröffnet die Saison der Komischen Oper Berlin mit Schönbergs „Pierrot Lunaire“, liefert damit kein schales Corona-Substitut, sondern eine präzise vorbereitete vollgültige Produktion. Dagmar Manzel, die sich hier mit Kurt Weill wie Operette zur Massary des frühen 21. Jahrhunderts entwickeln durfte, sie bewegt und berührt. „Fressen für die Seele“ zu servieren, nennt Kosky seine künstlerische Verpflichtung. Er liefert. Und wie.
Wie man mit nahezu demselbem, in diesen Zeiten nun mal naheliegenden Material scheitern und eine Nullnummer nach der anderen abliefern kann, demonstriert am anderen Ende der Erfolgsskala die Hamburgische Staatsoper. „Pierrot Lunaire“ wird da nicht in Szene gesetzt, sondern zum Soundtrack eines Animationsfilmchens. Das Haus lässt den jungen Video-Künstler Luis August Krawen geradewegs ins Messer laufen und degradiert das legendäre Bühnentier Anja Silja zur singenden Statistin. Der Abend lässt so ermüdend kalt wie die biedere Operetten-Belebung von Paul Abrahams „Märchen im Grand-Hotel“, die mal eben von der Studiobühne der opera stabile ins Große Haus transferiert, doch kaum passend gemacht wurde.
Es geht auch anders, dramaturgisch durchgearbeitet, reflektiert, mit der neuen Normalität ringend, was einmal mehr die deutschen Stadttheater in lustvoller Wendigkeit zeigen: Händels „Tolomeo“ am Theater Lübeck ist Paradebeispiel für im Geiste der Gegenwart reflektierte Poesie und Magie des Musiktheaters, die uns ganz viel angeht.