Jacques oder Jakob? Das ist heute keine Frage mehr. Zum Glück. War es aber zu Lebzeiten des chronisch verschmitzten, immergrünen, heute 200-Jährigen mit der seine Kurzsichtigkeit mildernden Zwickelbrille auf der Nase sehr wohl. Denn Offenbach war ein Grenzgänger. Nicht nur zwischen bierernster Kunst und champagnerlauniger Operettenmuse. Frankreich und Deutschland waren seinerzeit Erzfeinde. Und er – als Jakob am 20. Juni 1819 in Köln geboren, als Jacques am 5. Oktober 1880 in Paris gestorben – stand zwischen den Fronten. Immer wieder. Zumal aber während des Deutsch-Französischen Krieges von 1870/71.
In seiner Pariser Wahlheimat, die er bereits als bildungshungriger 14-Jähriger aufsuchte, wurde er nun trotz französischem Pass und der Ehrung als Ritter der Ehrenlegion als „Deutsch-Jude“ und in die Medien gar als angeblicher Spion Bismarcks diffamiert; zu Hause wiederum galt der Kölsche Jung als Vaterlandsverräter, dem das Etikett „französisch-dekadent“ angeheftet wurde. Ein früher Europäer, ja Weltbürger passte nicht in die ideologisch verengten politischen Schemata seiner Zeit.
Dabei wusste er die Gräben zwischen den Kulturen so erfolgreich zu überwinden wie nur wenige Zeitgenossen. Was dem nur acht Jahre älteren Franz Liszt verwehrt blieb, einen allein Franzosen vorbehaltenen Studienplatz am Pariser Conservatoire zu ergattern, das schaffte Offenbach – nicht zuletzt dank der Hartnäckigkeit seines Vaters Isaac, einem jüdischen Kantor, der den hochbegabten Sohn mit Empfehlungsbriefen in der Tasche in die Hauptstadt des 19. Jahrhunderts begleitet hatte. Er darf also Direktor Luigi Cherubini vorspielen – und studierte fortan Cello an der Seine. Freilich verließ er das ehrwürdige Institut bereits nach einem Jahr wieder – ohne Abschluss. Als Cellist der Opéra Comique lernte er lieber das Musiktheater seines opernprallen Jahrhunderts von der Pike auf kennen, und als junger Virtuose seines Instruments trat er alsbald nicht zuletzt an der Seite von Franz Liszt auf.
Offenbach als Mitbegründer der neuen Operette
1850 wurde Offenbach Kapellmeister am Théâtre-Francais, 1855 eröffnete er sein eigenes Theater, die Bouffes-Parisiens, und wirkte hier in gleich dreifacher Mission: als Intendant, Dirigent und Komponist. Als letzterer wird er – neben seinem einzigen ernst zu nehmenden Konkurrenten Hervé – zum Mitbegründer eines neuen Genres des Musiktheaters: der modernen Operette. So erfindet er mal eben das moderne Unterhaltungstheater. Die Operetten werden wahlweise „opéras bouffes“ und „bouffonneries“ genannt, hierzulande gar direkt mit seinem Namen identifiziert – als Offenbachiaden, womit die zeitsatirische Form dieser Spielart des Musiktheaters sprichwörtlich wird. Uraufführungen von Einaktern wie von abendfüllenden Meisterwerken folgen in enger Taktung – und begeistern Paris. Über hundert Bühnenwerke kreiert der Mann aus Köln-Deutz.
Denn während sein deutscher Landsmann Richard Wagner mit seinen mythendurchtränkten, intellektuellen Musikdramen um Anerkennung im damaligen Musikmekka Paris kämpfen musste, hatte Offenbach beim breiten Publikum sogleich Erfolg. Man pfiff und sang seine direkt ins Ohr gehenden Melodien auf den Gassen des Montmartre, an dessen Fuß er zunächst mit seinem älteren Bruder Julius in einer ärmlichen Mansarden-WG residierte. Er traf den Nerv seiner Zeit. Und er wusste, wie man durch gewieften Aufbau von nützlichen wie diplomatischen Beziehungsnetzwerken in einer eigentlich fremden Gesellschaft alsbald ankommen kann.
Offenbach sichert sich zwei renommierte Mitglieder der Académie Française, Dichter für Bizets Hit „Carmen“ und anerkannte Dramatiker als seine langjährigen Librettisten: Henri Meilhac und Ludovic Halévy. Dessen Onkel Fromental Halévy wiederum, Komponist der Erfolgsoper „Die Jüdin“, lauert Jacques vor der Oper auf, um von ihm dreist eine Freikarte zu erbetteln. Halévy lässt sich darauf ein, nimmt den jungen Kollegen mit in seine Loge und gibt dem Deutschen privaten Kompositionsunterricht. Später konvertiert Offenbach seiner Ehefrau Herminie und deren spanischer Familie zuliebe zum Katholizismus.
Witzig-böse Satiren auf die Obrigkeit
Zur Eröffnung seines eigenen Theaters während der Weltausstellung von 1855 protegiert ihn der Graf de Morny persönlich, und der ist immerhin Halbbruder des Kaisers. Offenbachs gleichwohl ambivalentes Verhältnis zur Politik führt direkt zu einem Markenzeichen seines Musiktheaters. Schließlich gelten seine Operetten als witzig-böse Satiren auf die herrschenden Verhältnisse und die aristokratische Obrigkeit, als Unterhaltungskunst, die zugleich der Gesellschaft und ihren Mechanismen auf den Zahn fühlt. Offenbach schafft einmal mehr einen mutigen Spagat. Denn er vermag es, die Kaiserzeit zugleich zu kritisieren und zu verherrlichen. Ja, die erfolgreichste Phase seines Lebens ist unmittelbar identisch mit jenem Zweiten Kaiserreich, das der Neffe Napoleons, Louis-Napoléon Bonaparte, entscheidend prägte.
Diese „mit scheinrepräsentativen Einrichtungen verbrämte Diktatur“, so Golo Mann, zeichne sich aus durch eine „allwissende, all-spionierende Polizei, strenge Überwachung der Presse (…), Verwarnungen, Verhaftungen, Verbannungen.“ Die Diktatur sei jedoch nie vollständig. Der wirtschaftsliberale Kurs des Kaisers begünstigte den Aufschwung, Paris wuchs zur modernen Metropole heran. Auch das kulturelle Leben blühte auf. In den Weltausstellungen präsentierte sich das Second Empire als zukunftsfroh selbstsichere Industrienation. Und trotz einer autokratisch-reaktionären Regierung war der Hedonismus durchweg Daseinsprinzip.
Verblüffend frei von Beobachtungen durch die Zensur konnte Offenbach sein doppeltes Spiel treiben. So in seiner gleich multiplen Parodie von „Orpheus in der Unterwelt“, die Mythos, Gattung Oper und die Institution der Ehe als soziale Zweckgemeinschaft gleichermaßen durch den Kakao zieht. Und schließlich die fröhlich frivole Götterwelt in einer rhythmisch zündenden Persiflage abfertigt. Kann Operette zeitgemäßer sein? Jupiters Sexabenteuer ließen sich ohne Umschweife sowohl auf die Mätressenwirtschaft von Ludwig XIV. beziehen als auch auf die Doppelmoral des amtierenden Kaisers. Ob die Neuinszenierungen im Jubiläumsjahr passende Parallelen in der Gegenwart finden, muss keineswegs bezweifelt werden.
Veritables Fest für Kölner Kauz
Dazu kann man nach Paris oder Lyon reisen, muss es aber nicht. Denn Offenbachs Geburtsstadt will sich tunlichst nicht mehr nachsagen lassen, den großen Sohn zu vernachlässigen. Ein veritables Festival ist also dem Kölner Kauz gewidmet. Generalmusikdirektor François-Xavier Roth steht dabei persönlich für die Brücke zwischen Paris und Köln und lässt es sich nicht nehmen, „Die Großherzogin von Gerolstein“ höchstselbst zu dirigieren, um Esprit und Raffinement wirklich aus jeder Pore der Partitur herauszukitzeln. Sein Landsmann Renaud Doucet wird dabei vom Regiepult aus dafür sorgen, dass die erotischen Anzüglichkeiten nicht zu kurz kommen.
Besondere Gegenwartsbezüge wollen die Kölner zudem aufspüren, wenn sie im Oktober „Barkouf oder ein Hund an der Macht“ als kostbare Wiederentdeckung und sogar als Deutsche Erstaufführung auf die Bühne bringen. Zu hoffen ist, dass das zu oft klischeehaft zum musikalischen Halodri verniedlichte Geburtstagskind zu seinem runden 200. in seiner ganzen schillernden Komplexität erkannt und gewürdigt wird, sodass seine Offenbachiaden und seine letzte und einzige ernste Oper „Hofmanns Erzählungen“, die er selbst nicht mehr auf der Bühne erleben konnte, wirklich gleichberechtigt nebeneinander bestehen können und als solche wahrgenommen werden. Der große Grenzgänger hätte es verdient.