Führt Weltenflucht letztendlich zur Weltzerstörung? Wie gefährlich ist künstlerischer Eskapismus? Ist die Überhöhung der schöpferischen Fantasie zum Ideal einer gottnahen heiligen Kunst eine Anmaßung, der sich wahre Götter tunlichst erwehren müssen? Es sind große, womöglich letzte Fragen, die Walter Braunfels› Oper „Die Vögel“ aufwirft. Dieses Schlüsselwerk des frühen 20. Jahrhunderts, anno 1920 am Münchner Nationaltheater unter Mahler-Intimus Bruno Walter als Sensationserfolg uraufgeführt, aber in weiten Teilen noch vor dem ersten Weltkrieg komponiert, erlebte jetzt bei den Tiroler Festspielen Erl seine epochale Wiederentdeckung, nach der man dem Wunderwerk alsbald seine Rückkehr auch an den Ort seiner Geburt wünschen mag.
Führt dieser fulminante Abend zu einer Braunfels-Renaissance?
Gerüchten aus süddeutschen Opern-Insiderkreisen zufolge ist in der Tat eine Münchner Produktion zum 100. Jahrestag der Uraufführung geplant. Die Stadt von Richard Strauss muss den in seiner Jugend in einem Atemzug mit Strauss und Schreker genannten Meisterkomponisten Braunfels ins Bewusstsein zurückbringen, verschwand er, nachdem der deutsche Diktator ihm 1923 noch den Auftrag zu einer nationalsozialistischen Hymne geben wollte, doch mit der Machtergreifung 1933 von den Spielplänen. Die Nazis jagten ihn aus seinem Amt als Gründungsrektor der Kölner Musikhochschule. Erst Konrad Adenauer setzte ihn nach dem Ende des Krieges wieder in sein Direktorenamt ein. Die Ausgrenzung des Walter Braunfels als Halbjude hatte freilich Spätfolgen. Seine Renaissance setzt erst zaghaft ein. Die fulminante Erler Neuinszenierung, die in einer Aufzeichnung des ORF der Nachwelt erhalten bleibt, dürfte hierzu entscheidende, nachhaltige Impulse geben.
Strauss, Schreker und Braunfels amalgamieren freudianisch Seelenschürfendes und verschwurbelt Symbolistisches
Im falschen Stück wähnt man sich gleich zu Beginn. Denn flötet hier nicht die Zerbinetta von Richard Strauss ihre himmelhochjauchzenden Vögelchen-Koloraturen? Nein, es nicht die kokette Zerbinetta, es ist die Nachtigall, die weibliche Hauptfigur bei Braunfels. Seltsame Gleichzeitigkeit: „Ariadne auf Naxos“ und „Die Vögel“ entstanden unmittelbar parallel. Wer inspirierte hier wen? Wer schrieb von wem ab? Eine wechselseitige Beeinflussung liegt nahe. Interessanter als die Klärung von Original und Fälschung ist freilich, wie sich bei allen drei Meistern einer expressionistisch ausladenden Spätromantik die Fragen ihrer Zeit auf verblüffend ähnliche Weise spiegeln. Freudianisch Seelenschürfendes, verschwurbelt Symbolistisches, die Rolle der Kirche übernehmendes Kunstreligiöses amalgamieren die führenden Opernkomponisten ihrer Zeit auf sehr wohl vergleichbare Art und Weise und mit Fragestellungen, die sich verblüffend ähneln. Franz Schrekers „Der ferne Klang“, anno 1912 in Braunfels› Geburtsstadt Frankfurt am Main aus der Taufe gehoben, findet sich als ausdrücklicher Begriff wie als musikalisches Idiom in „Die Vögel“ wieder. Wagners „Tristan und Isolde“ wird von Schreker wie von Braunfels lustvoll ausgebeutet und zum seelischen wie sexuellen Brodeln und Brausen gebracht.
Taugt der Rausch als Lebens- und Kunstprinzip?
Es sind die Beschwörungsformeln der spätromantischen Kunst, die das dionysische Prinzip der Nachtgeweihten noch einmal zum rauschhaften Exzess der Entgrenzung treiben. Wo ein Richard Wagner indes den Rausch unhinterfragt als Lebens- und Kunstprinzip propagierte, liefert Braunfels trotz aller Momente des wilden orchestralen Ausrasens die Infragestellung desselben gleich mit. Tragödie und Komödie sind – die Korrespondenzen zu „Ariadne auf Naxos“ sind bis in den zeitlichen Bauplan der Werke verblüffend – in Eins gesetzt, Identifizierung und Distanzierung liegen gar nahe beieinander. Das macht „Die Vögel“ nicht nur zu einem allerletzten Opern-Aufbegehren einer expressionistisch auf die Spitze getriebenen Sehrspätromantik, sondern auch zu einem gültigen Werk der Gegenwart.
Mitreißender und magischer kann man diese große Musik weder dirigieren noch musizieren.
Die musikalische und die szenische Interpretation gehen dabei in Erl perfekt Hand in Hand. Die Produktion gleicht einer Bekehrung zu Braunfels. Lothar Zagrosek ist der überzeungskräftige Spiritus rector. Am Pult des maximalmotivierten Orchesters der Tiroler Festspiele Erl hört er die beiden klanglichen Seiten der Partitur hochsensibel aus: die in apollinischem Klassizismus sublimierte Süffigkeit des ersten Aktes, das sensualistische „süße Wehen des Alls“, wie das Libretto explizit tristanesk kündet, im dionysischen zweiten Akt. Mitreißender und magischer kann man diese große Musik weder dirigieren noch musizieren.
Sängerriege setzt Maßstäbe
Neben Orchester und Chor steht in Erl eine Maßstäbe setzende Sängerriege auf der Bühne. Bianca Tognocchi ist eine Nachtigall, die mit ihrem dramatischen Koloratursopran alle irrlichternden Extremtöne so gestochen wie tollkühn ausleuchtet. Marlin Miller ist ein jugendlicher Heldentenor, dessen (ganz wie in den großen Tenorpartien von Richard Strauss) unbequem hoch liegende Partie des in die schöne ideale Sängerinnenwelt der Nachtigall vernarrte Hoffegut er traumwandlerisch mühelos durchschreitet. Julian Orlishausen singt dessen deutlich mehr auf dem Boden der Wirklichkeit stehenden Kameraden Ratefreund mit eloquent wohlklingendem Kavaliersbariton. Thomas Gazheli leiht dem die grimmige Götterwelt personifizierenden Prometheus prophetische Bass-Bariton-Töne.
Weltenflucht führt zum Weltverlust.
Regisseurin Tina Lanik tritt ihrerseits enorm klug die Flucht nach vorn an, übersetzt die mythenverschwurbelte, auf Aristophanes basierende Geschichte, deren gesungener Text aus der Feder des Komponisten stammt, beherzt in eine Kunstwelt der Gegenwart. Der Nachtigall begegnen wir zur Beginn in ihrer Operngarderobe. Sie ist eine begehrte Diva, umgeben von einem Damenchor von Gleichgesinnten. Ratefreund und Hoffegut, Herren aus der wahren Wirklichkeit, sind Fans der Primadonnen, sie überhöhen die Künstlerinnen zu Göttinnen. Die These der Regisseurin: Derart süchtige Weltenflucht führt letztlich zum Weltverlust. Prometheus tritt mit Töchterchen Greta Thunberg als großer Warnerin auf. Die Konkretisierung des Mythos ins Politische bringt uns das Werk unmittelbar nahe, hinterfragt das Wolkenkuckucksheim dieses „Reich der lüftefrohen Sänger“ und die der Welt abhanden gekommenen „Weisen geweihten Gesangs“, ohne Walter Braunfels zu dekonstruieren. Vielmehr wird sein Zauberwerk (ganz ohne märchenhafte Vögelchenkostüme) unerhört wesentlich.
Profiliert profunde Basis, auf der Bernd Loebe ab Herbst 2019 seine Arbeit als Intendant aufbauen kann
Nach dem unfreiwilligen Abgang von Festpielgründer Gustav Kuhn hat sein interimistischer Nachfolger Andreas Leisner die Tiroler Festspiele Erl mit der von ihm alleinverantwortlich konzipierten, geplanten und durchgeführten Saison und zumal seiner dramaturgisch mutigen Entscheidung für „Die Vögel“ erstmals vollends auf das Niveau der derzeit wichtigsten Opernfestivals gehievt. Stückwahl und musikalisch-szenische Qualität wie Konsequenz setzen sowohl Maßstäbe als auch eine profiliert profunde Basis, auf der Bernd Loebe ab Herbst 2019 seine Arbeit als Intendant aufbauen kann, die er dann neben der Leitung der Oper Frankfurt übernehmen wird.
Tiroler Festspiele Erl
Braunfels: Die Vögel
Lothar Zagrosek (Leitung), Tina Lanik (Regie), Stefan Hageneier (Bühne), Heidi Hackl (Kostüme), Julian Orlishausen, Marlin Miller, Thomas Gazheli, James Roser, Attla Mokus, Bianca Tognocchi, Sabina von Walther, Adam Horvath, Giorgio Valenta, Svetlana Kotina, Lauren Urquart, Chor und Orchester der Tiroler Festspiele Erl