Im Frühjahr gewann die 2014 in Brüssel uraufgeführte Oper Au Monde von Philippe Boesmans den International Opera Award, den wichtigsten Preis der internationalen Musiktheaterszene. Dennoch kommt das ungewöhnliche Stück in der laufenden Spielzeit einzig am kleinen Aachener Theater heraus.
Sehnsuchtspunkt „Fernseher“
Die Bühne ein Schuhkarton. Kahle, glatte Wände hat Oliver Brendel zusammengefügt. Nur manchmal tut sich eine Öffnung auf. Dann wird der Blick frei auf einen monumentalen Fahrstuhlschacht oder kahles Mauerwerk, das zum Schlafzimmer der jüngsten Tochter führt. Da friert es einen unwillkürlich. Einen Weg hinaus scheint es nicht zu geben. Das Fenster ist eine deutlich sichtbare Projektion. Sehnsuchtspunkt ist der Fernseher, der immer wieder angeschaltet wird. Denn der Vater ist Waffenfabrikant und will sehen, wie die Kriege laufen, die zweite Tochter ist Fernsehstar. Man will sie bewundern.
Familie ohne Namen, aber voller Ängste
Es ist eine aneinander gekettete Familie ohne Namen, aber voller Ängste und Irrwege, die hier gezeigt wird, in einem Libretto, das anstelle von Informationen nur Andeutungen zur Verfügung stellt. An denen arbeitet sich die Regisseurin Ewa Teilmans ab, versucht sich einen Weg zu bahnen zwischen beliebig absurdem Surrealismus und planem Realismus. Teilmans blendet die zwanzig Szenen, die der Librettist Joel Pommerat auf Basis seines gleichnamigen Erfolgsstücks kreiert hat, routiniert mit filmischer Schnitttechnik ineinander.
Sie abstrahiert selten, vertraut etwa die „fremde Frau“ einer Tänzerin an, konkretisiert gelegentlich, interpretiert hier und da, rettet sich manchmal in Posen, vereinzelt auch in starke Bilder. Es fehlt ein wenig an entschlossenem Zugriff, den dieser Andeutungsdschungel von Stück durchaus fordert, aber keinesfalls erleichtert.
Das Aachener Sängerensemble ist herausragend
Dass die Aufführung ihr Publikum erreicht, ja, es sogar begeistert, liegt am herausragenden Aachener Sängerensemble. Im Zentrum drei Schwestern – wie einst bei Tschechow und eingestandenermaßen von diesem beeinflusst. Die älteste ist schwanger. Sanja Radisic gibt ihr ihren profunden Mezzosopran und eine seltsam skurrile Würde mit. Camille Schnoor spielt glaubhaft den Fernsehstar und hat eine unglaubliche Kondition. Denn die zweite Tochter dürfte eine der längsten Opernrollen für lyrischen Sopran überhaupt sein. Schnoor bewältigt sie durchgängig klangschön und expressiv.
Mindestens genauso beeindruckend Suzanne Jerosme als jüngste Schwester. Sie setzt ihren schwerelosen Sopran für ein ungeheuer intensives Porträt der jüngsten Tochter als aufbegehrende, todtraurige Kindfrau ein, gewissermaßen Melisandes kleine Schwester. Auch bei den Herren nur Erfreuliches, sei es beim basssonoren Randall Jakobsh als zunehmend dementem Vater oder beim höhenstarken Hrolfur Saemundsson, der dem unglücklichen zweiten Sohn Ori, der einen Namen hat, weil er es als einziger geschafft hat, eine Zeitlang fern der Familie zu leben, bewegend Kontur verleiht.
Ungewöhnliche Instrumentalfarben
Die Musik von Philippe Boesmans ist farbenfroh und nüchtern gleichzeitig, schwimmt am Text entlang, illustriert, reflektiert, konterkariert diesen, verfügt über viele ungewöhnliche Instrumentenfarben, gewinnt selten eigenes Leben, ist aber ein ideales Fundament für Theater. Justus Thorau führt das mit dem Sinfonieorchester Aachen beispielhaft vor, auch wenn der dynamische Pegel in der Premiere sowohl auf der Bühne als auch im Graben momentweise etwas hoch ausschlägt. Fazit: Aachen hat Au Monde nicht entschlüsselt, die Lebenskraft dieses auf romantischer Tradition fußenden Stückes Musiktheater aber nachdrücklich behauptet.
Theater Aachen
Philippe Boesmans: Au Monde
Justus Thorau (Leitung), Ewa Teilmans (Regie), Oliver Brendel (Bühne), Andreas Becker (Kostüme), Randall Jakobsh, Pawel Lawreszuk, Hrolfur Saemundsson, Sanja Radisic, Camille Schnoor, Suzanne Jerosme, Johan Weigel, Marika Meoli, Sinfonieorchester Aachen