Fräulein Mimì gefallen jene Dinge, die von süßem Zauber sind und den Namen „Poesie“ tragen. Brav stickt die unschuldige Nachbarin des selbsternannten Dichters Rodolfo Rosen und Lilien. Sie klopft an seiner Mansarden-WG und bittet um Feuer für ihre erloschene Kerze. Sopranlyrikerin Mirella Freni hat mit ihren herzerweichend aufgerissenen Kulleraugen in diesem Moment einst hingebungsvoll ihren Jugendfreund aus Modena, Tenorissimo Luciano Pavarotti, angeschmachtet. Eine Bilderbuch-Mimì war das. Doch zeichnet der Erotiker Puccini zu Beginn von La Bohème wirklich in hauchfeinem Aquarellton das Bild einer Femme fragile? Nutzt hier nicht vielmehr eine Femme fatale die Flüsterworte des zerbrechlich zarten Frauentyps, um den von ihr erwählten jungen Mann nach allen Regeln der Kunst zu verführen? Tragen die Worte von Mimìs Arie nicht den geheimen Sinn des Eros in sich? Den sie selbst andeutet, wenn sie Rodolfo hernach die flunkernde Frage stellt: „Verstehen Sie mich?“ Der Poet kapiert nur zu gut. In seiner schwärmerischen Replik wechselt er prompt zum intimen Du. Die beiden sind sich schnell einig.
Das gierige Leben praller, schneller Leidenschaft – Speed-Dating in einer Metropole der Moderne
In der fantastischen Eröffnungspremiere der Opernfestspiele Heidenheim inszeniert mit Petra Luisa Meyer zwar eine aus dem Schauspiel kommende Regisseurin. Doch sie nimmt den doppelten Boden von Text und Musik womöglich genauer wahr als ein Experte des Musiktheaters. Sie denkt das Stück um die vier sich mehr schlecht als recht durchs Leben schlagenden Künstlerfreunde im Pariser Quartier Latin von heute aus. Die Atelierwohnung von Dichter Rodolfo, Maler Marcello, Philosoph Colline und Musiker Schaunard könnte ein Vintage Store der Gegenwart sein, in den ein Kumpel schon mal einen ollen Kinderwagen als Requisit längst vergangener Zeiten mitbringt. Der Traum vom Familienglück ist in dieser Metropole der Moderne freilich verblichen, es herrscht die Unverbindlichkeit der Bohemiens und ihres gierigen Lebens in Augenblick und Freiheit. Wo es an Verantwortung fehlt, gebietet gleichwohl eine pralle, schnelle Leidenschaft. Die kennt die Versatzstücke der Romantik durchaus noch, sie zitiert sie als immer noch schöne Floskeln im Rollenspiel von Sehnsucht, Eroberung, Flirt und Speed-Dating. Das Ideal der Erhöhung der angebeteten Geliebten beschwört zumal Dichter Rodolfo natürlich noch: In seiner Arie hebt er Mimì geradewegs auf das Podest eines Tisches, unter dem sich ihre Hände zuvor erstmals ganz nahe gekommen sind.
Der Realismus hat die Romantik abgeschafft
Puccini lässt sein Stück zwar 1830 spielen, vollendet es indes 1895, als auch in der Oper längst der Realismus die Romantik abgeschafft hatte. La Bohème, das beweist die Inszenierung mit größter Konsequenz und perfekter Personenführung, ist von verblüffender Aktualität. Ein kitschtriefendes Rührstück ist Puccinis Meisterwerk im unglaublich stimmungsvollen Ruinenambiente von Burg Hellenstein auf dem Grünen Hügel von Heidenheim nicht einen Moment lang. Und doch berührt uns das Schicksal der Liebenden so stark wie nur selten.
Poet und seine Poesie – die männliche Projektion von Frauenbildern
Petra Luisa Meyer stärkt ihr Leitmotiv zerrinnender Lebens- und Liebesträume junger Menschen durch den Kunstgriff der Rückblende. Noch vor dem ersten Ton tritt ein humpelnder, ergo gealterter Marcello auf, um sich das Leben zu nehmen. Am Ende, nach Mimìs Tod, wiederholt sich die Szene, schließt sich der Bogen zum stummen Vorspiel. In der Opernhandlung gleicht Marcello einem teilnehmenden Beobachter, der das Geschehen auf Video festhält. Wenn Mimì und Rodolfo im ersten Bild schnell über den ersten Kuss hinauskommen, ist auch Marcello mit anwesend. Wenn im vierten Bild die musikalischen Motive dieser aufkeimenden Liebe melancholisch zitiert werden, zeigt er die alten Aufnahmen der beiden Paare – Mimì und Rodolfo, Musetta und Marcello. Die Regisseurin spielt auch hier klug mit dem Thema der Frauenbilder, das schon die Umwertung Mimìs zur Femme fatale bestimmt hatte. Klar, in La Bohème geht es eben auch um männliche Projektionen: Ist Rodolfo nicht gleichsam der Schöpfer der schönen Mimì? „Ich bin der Poet, und sie ist die Poesie“, bekennt er schließlich im Café Momus des zweiten Bildes.
Fans schwärmen schon von der süddeutschen Variante der Festspiele in Glyndebourne
Bei aller konzeptionellen Stringenz gönnt das Regieteam seinem Publikum sehr wohl auch das für wahren Open Air-Genuss nötige Quäntchen Spektakel. Die zum Christmas Shopping ausschwärmende Pelzjäcken-Society, die der exzellente Tschechische Philharmonisch Chor Brünn darstellen darf, ist im Café Momus eine Wonne für Auge und Ohr. Ganz große Poesie verströmen die Sängerinnen und Sänger beim mit Kerzenschein erleuchteten nächtlichen Dating im dritten Bild. Zum Glück ist’s eine Mondnacht – singt Rodolfo in seinem Arienhit vom eiskalten Händchen seiner neuen Flamme Mimì entgegen. Der Satz gewinnt in Heidenheim manch weitere Bedeutung. Denn der gestirnte Himmel über diesem anderen Grünen Hügel spielt am Premierenwochenende in der Alb mit einer sommerlichen Grandezza mit, die nur den Glücklichen hold ist. Marcus Bosch hat mit seinem Team das Glück der Visionäre. Der Dirigent bringt das traditionsreiche regionale Opernfestival auf Expansions- und Exzellenzkurs und damit vollends auf die überregionale Landkarte der besten Sommerfestivals. Mancher Fan schwärmt schon von der süddeutschen Variante der Festspiele im südenglischen Glyndebourne. Die Atmosphäre in der Rittersaal-Ruine und ihrem weitläufigen Umfeld ist auf ganz andere, aber sehr wohl vergleichbare Weise herrlich wie der rosengezierte Picknick-Park in East Sussex.
Die umwerfende Glaubwürdigkeit junger Sängerdarsteller
Wie seine Kollegen auf der Insel setzt der dirigierende Intendant auf junge Sängerdarsteller, die der Bohème-Personnage eine unerhörte wie umwerfend unmittelbare Glaubwürdigkeit schenken. Aufgrund der direkt aufeinander folgenden Spieltermine am Wochenende gibt es gleich zwei Besetzungen. Als Mimì alternieren die slawisch dunkel getönte ukrainisch-amerikanische Sopranistin Stefania Dovhan mit ihrer warm und edel timbrierten jungen rumänischen Kollegin Renata Vari. Die Musetta gibt mit Michael Maria Mayer eine der besten, weil wandlungsfähigsten Sängerinnen ihres Fachs, die Dänin Dénise Beck singt sie mit tollem Soubrettencharme. Als Rodolfo wechseln sich der Amerikaner Jesus Garcia mit seinem sehr persönlichen lyrisch schlanken Schmelz eines Tenore di Grazia und der charismatische junge Chilene León de la Guardia ab. Mit luxuriöser wie eloquenter Baritonpracht statten sowohl Antonio Yang als auch Gocha Abuladze den Marcello aus. Mit Florian Götz steht ein waschechter Heidenheimer mit herrlich hellem Schaunard-Bariton auf der Bühne. Und Randall Jakobsh adelt den Colline mit vornehmer, weil nie protzend phrasierender Wucht seines Basses.
Puccini, der frühe Impressionist
Marcus Bosch, der als GMD in Nürnberg nicht zuletzt Richard Wagner ungeahnt luzide auffächert, deutet auch seinen Puccini aufregend neu – als frühen Impressionisten. Seidig zart macht er mit den Stuttgarter Philharmonikern die bedeutungsschwangeren Unterschiede vom Piano bis zum vierfachen Pianopianissimo deutlich, arbeitet mit den Holzbläsern die sprechenden kleinen Motive heraus und schärft den Konversationston des Werks. So klingt Puccini-Glück.
Opernfestspiele Heidenheim
Puccini: La Bohème
Ausführende: Marcus Bosch (Leitung), Petra Luisa Meyer (Regie), Detlev Beaujean (Bühne), Cornelia Kraske (Kostüme), Jesus Garcia/León de la Guardia, Stefania Dovhan/Renata Vari, Michaela Maria Mayer/Dénise Beck, Antonio Yang/Gocha Abuladze, Florian Götz/Gocha Abuladze, Randall Jakobsh, Tschechischer Philharmonischer Chor Brünn, Stuttgarter Philharmoniker