„Die unendliche Geschichte“ nannte Michael Ende seinen Fantasy-Roman, der Anfang der 1980er-Jahre zum weltweit populärsten Jungendbuch avancierte. Und man hat den Eindruck, dass sich auch die Corona-Pandemie nebst halbgarer Schutzvorschriften seitens der Politik zu einer solchen Geschichte ausweitet. Ende beschrieb ein Horrorszenario: Im Reich Phantásien lösen sich zuerst kleinere Areale, dann ganze Landstriche einfach in nichts auf. Genau das könnte jetzt mit unserer Kulturlandschaft geschehen. Bloße Fantasie? Leider nein.
Bach, Brahms und Bordell – alles über einen Kamm geschoren
In einer Telefonkonferenz haben die Bundeskanzlerin und die Regierungschefinnen und Regierungschefs der Länder gestern aufgrund der stark ansteigenden Infektionszahlen zusätzliche Maßnahmen zur Bekämpfung der SARS-Cov2-Pandemie beschlossen. Die 16 Punkte starke Beschlussfassung sieht – zunächst befristet bis Ende November – eine „erhebliche Reduzierung der Kontakte in der Bevölkerung“ vor und fordert unter anderem die Schließung sämtlicher „Institutionen und Einrichtungen, die der Freizeitgestaltung zuzuordnen sind“. Die konkrete Auflistung nennt Theater, Opern, Konzerthäuser und „ähnliche Einrichtungen“ in einem Atemzug mit Freizeitparks, Spielhallen, Prostitutionsstätten, Fitnessstudios und dem Freizeit- und Amateursportbetrieb. Wie beim ersten Lockdown werden alle Freizeitaktivitäten über einem Kamm geschoren, obwohl man kein Abitur haben muss, um zu erkennen, dass die Ansteckungsgefahren in einem Konzert- oder Theatersaal, in denen strenge Hygienekonzepte eingehalten werden, völlig andere sind als etwa bei einem Fußballspiel oder einer schnellen, aber körpernahen Nummer im Bordell. Sie tendieren nämlich – wie Studien inzwischen gezeigt haben – gegen null.
Konzertsaal als Schutzraum
Tatsächlich ist die Gefahr der Ansteckung im eigenen Haushalt oder im Haushalt von Freunden und Familie mit Abstand am höchsten, gefolgt von Ansteckungen am Arbeitsplatz oder beim Bierchen in der Bar. Wer das Infektionsrisiko minimieren möchte, fährt demnach am besten, wenn er sich abends im Theater, Opern- oder Konzerthaus aufhält, weil wohl an kaum einem anderen Ort die Covid-19-Sicherheitsvorkehrungen so diszipliniert und verantwortungsvoll eingehalten werden wie hier. Dennoch wollen Angela Merkel und die Regierungschefs der Länder nun ein zweites Mal pauschal die Reißleine ziehen – mit verheerenden Folgen für eine ohnehin schon stark angeschlagene Kulturbranche, in der es nicht nur um Geld geht, sondern um das soziale Miteinander, das Einstehen füreinander, das Reflektieren der Situation, mithin um die Werte unserer Gesellschaft. Ganz zu schweigen von der „therapeutischen Funktion“, die das gemeinsame Erleben in Zeiten Corona-bedingter Vereinzelung und Vereinsamung mit sich bringt. Der Deutsche Musikrat hatte bereits im Vorfeld Alarm geschlagen (concerti berichtete), erste Stimmen signalisieren Ärger und Unverständnis ob der beschlossenen Maßnahmen. Marc-Oliver Hendriks, geschäftsführender Intendant des Württembergischen Staatstheaters Stuttgart, spricht beispielsweise von einer „Symbolpolitik“, für die Kultur in Mithaftung genommen werde, denn es gebe bislang keinen Beleg dafür, dass sich Menschen beim Besuch einer Theater-, Opern- oder Ballettaufführung infiziert hätten.
Kultur als Konjunkturmotor
Von einem „skandalösen Schauspiel“ spricht Trompeter Till Brönner in einem Internetvideo und macht eine Rechnung auf, bei der die Entscheidungsträger des November-Lockdowns rot anlaufen müssten: 130 Milliarden Euro würden jährlich im kulturellen Bereich umgesetzt, in dem mehr als doppelt so viele Menschen arbeiteten wie in der Autoindustrie. Von den 16,5 Millionen Menschen, die in Deutschland die Hauptsteuerlast trügen, arbeiteten 1,5 Millionen in der Kultur. Damit läge diese Gruppe auf Platz zwei der Beschäftigtenzahlen. „Wie kann man einzelnen Konzernen Milliarden in den Vorgarten werfen und der Veranstaltungsbranche Arbeitslosengeld II anbieten?“, fragt Brönner. „Wir Musikkünstler sind weder arbeitslos, noch hatten wir vor Corona ein Nachfrageproblem, wie so einige andere Branchen, die in Wahrheit nicht an Corona, sondern durch Schläfrigkeit oder Gier in Schieflage geraten sind.“
Den Preis zahlen wir alle
Kultur hat ihren Preis. Das gilt auch für einen flächendeckenden Lockdown. Wenn dessen Kosten am Ende ins Unermessliche steigen, liegt es maßgeblich auch daran, dass man den Kreativschaffenden ohne erkennbare Notwendigkeit ein Arbeitsverbot auferlegt und magere Hilfspakete verteilt, die in keinem Verhältnis zur mächtigen Wirtschaftsleistung dieser Menschen stehen. Den Preis zahlen am Ende nicht nur Künstler und Veranstalter, sondern wir alle.
Der Politik fehlt es an Fantasie
Ein magisches Amulett, wie der Held der „Unendlichen Geschichte“ es trägt, steht uns nicht zur Verfügung, um das Virus einzudämmen. Letztendlich ist es bei Michael Ende aber die Fantasie, die die Bedrohung durch das Nichts besiegt. Die Schreckensfantasie, wie eine kulturelle Landkarte aussieht, die nur noch aus weißen Flecken besteht, scheint den Regierenden zu fehlen. Sonst hätten sie sich sicher um mehr Differenzierung bemüht, anstatt zum aktionistischen Rundumschlag auszuholen.
Sehen Sie hier Till Brönners Statement zur aktuellen Situation der Kultur- und Kreativwirtschaft: