Es herrscht gebannte Stille. Gleich soll das schwedische Königspaar das Opernhaus von Stockholm betreten. Alle anderen Gäste der Preisverleihung haben zuvor ihre Plätze eingenommen. Und warten nun. Aus der mutmaßlich Richtung, aus der König Carl XVI Gustaf mit seiner Gemahlin Königin Silvia über die Bühne in den Zuschauerraum gelangen sollen, kommt indes nur ein verstreut wirkender Kameramann. Der Saal lacht. Jetzt treten drei Musiker auf, intonieren eine festliche Fanfare. Und nun erscheinen sie. Königin und König.
Hinter ihnen der Präsident der Birgit Nilsson Foundation, Rutbert Reisch und seine Gattin Caroline – und dann natürlich die wichtigste Person des Abends: Nina Stemme. Die Schwedin gilt als die begehrteste Brünnhilde unserer Tage, die führende Elektra, Isolde und Turandot. Ja, Stemme ist heute weltweit für eben jenes hochdramatische Fach zuständig und allererste Wahl, das ihre Landsfrau Birgit Nilsson einst beherrschte.
Nina Stemme: die einzig legitime Nachfolgerin der legendären Nilsson
Nach Plácido Domingo (2009) als erstem Preisträger, Riccardo Muti (2011) und den Wiener Philharmonikern (2014) geht der mit einer Million Dollar dotierte Birgit Nilsson-Preis nun an die einzige legitime Nachfolgerin der legendären Wagner– und Strauss-Heroine. Und dies just in dem Jahr, in dem die Opernwelt des 100. Geburtstags der Nilsson gedenkt. Stemme kannte und verehrte sie, wurde persönlich von ihr gefördert, fragte schon mal per Fax bei La Nilsson nach, ob denn nun die Zeit reif sei für ihre erste Isolde.
Verblüffend ähnlich, in gesund aufeinander aufbauenden Schritten baut Nina Stemme ihre Karriere auf. „Lasse Dir Zeit“, empfahl ihr die Nilsson einst. Das Hineinwachsen vom lyrischen über das jugendlich-dramatische ins hochdramatische Fach ging sie so methodisch und logisch an wie ihr Vorbild. Und steht dank des von ihr beherzt befolgten „Hurry slowly“ seit Jahren unangefochten an der Spitze einer kleinen Riege großer Wagner- und Strauss-Diven.
Die doppelte Hommage gilt auch der Jahrhundertsopranistin Birgit Nilsson, die 2018 ihren 100. Geburtstag gefeiert hätte
Die Zeremonie der Preisverleihung zur Ehren von Nina Stemme glich nun einer doppelten Hommage. Die am Weihnachtstag des Jahres 2005 verstorbene Preisgeberin schien nicht weniger präsent als die strahlende neue Preisträgerin. Zwar ist das Protokoll des Abends von wahrer königlicher Strenge. Die Festgesellschaft singt zunächst im Stehen die Nationalhymne, nur der König selbst schweigt, wird doch im Text ausdrücklich die Treue zu ihm beschworen. Carl Gustav besingt sich natürlich nicht selbst. Doch mit jedem weiteren Programmpunkt des konzise 90 Minuten dauernden Festakts strömt immer mehr Herzenswärme durch den Saal der Königlichen Oper.
Da singt die junge Sopranistin Christina Nilsson, deren Namensgleichheit mit La Nilsson freilich rein zufällig ist, zunächst drei schwedische Volkslieder – eine Verbeugung vor der ihrer Heimat stets verbunden geblieben, ihrer Wurzeln stets bewussten Königin des schweren Fachs, die ihre Liederabende stets mit innig schlichten Liedern Skandinaviens beschloss. Die Laudationes der Präsidentin der Königlich Schwedischen Musikakademie, der früheren Barocksopranistin Susanne Rydén, wie jene der Intendantin des Opernhauses, der Mezzospranistin Brigitta Svendén, waren von unprätentiöser Aufrichtigkeit. Im besonderen die Reden von Rutbert Reisch aber brachten der Festgesellschaft die Persönlichkeit der Preisgeberin nach. Als Student hatte der spätere Finanzchef internationaler Konzerne als regelmäßiger Besucher des Stehplatz der Wiener Staatsoper seine Liebe zum Musiktheater entdeckt und immer weiter vertieft.
Als er 1968 La Nilsson in Wien erlebte, wollte er wissen: „Was für ein Mensch steht hinter dieser monumentalen Künstlerin?“ Er lernte die Schwedin in ihrer Garderobe kennen, keineswegs als unnahbares Monument, sondern als warmherzige, zugängliche und natürliche Dame. Der Beginn einer lebenslangen Freundschaft. Als die Nilsson später ihrer Stiftung gründet, in die sie ihr enormes Vermögen einbringt, wünscht sie sich den Finanzexperten und leidenschaftlichen wie kundigen Opernfan als Vorstand. Er zögert, will nein sagen. Willigt dann ein, unter der Voraussetzung, die verantwortungsvolle Aufgabe – es gilt schließlich, aus dem Stiftungskapital alle paar Jahre für die Preisvergabe einen Ertrag von einer Million zu erwirtschaften – ehrenamtlich ausüben zu dürfen.
Sichtlich bewegt dankte Reisch jetzt im memoriam der alten Freundin. Demnächst gibt er den Vorsitz der Stiftung ab, die dann unter dem Dach der hiesigen Musikakademie weitergeführt wird, um dann auch das pädagogische Engagement der Stifterin gezielt mit Meisterkursen und Education-Projekten zu verwirklichen.
Sir Bryn Terfel bricht den protokollarischen Ernst ganz locker
Für weitere Auflockerung protokollarischen Ernst sorgte schließlich einer der größten Sänger der Gegenwart, der von der englischen Queen geadelte Sir Bryn Terfel. Von umwerfender Naturgewalt und deklamationsintensiver Textgestaltung war zunächst der Monolog der Titelfigur von Wagners „Der fliegende Holländer“. Als Sir Bryn dann zum Fliedermonolog des Schustermeisters Hans Sachs aus „Die Meistersinger von Nürnberg“ einen Schuh auszieht und den Frühlingsduft auf sehr eigene Weise imaginiert, ist alle royale Steifheit verflogen.
Und als er schließlich im Angesicht der Königin in die Figur des Falstaff schlüpfte und keineswegs protokollkonform jede Nuance des den Ehrbegriff ad absurdum führenden Librettos ausspielte, kamen wir doch arg ins Grübeln, was denn in diesem Moment die eigentliche Inszenierung war: das königliche Rollenspiel oder das Erfinden künstlerischer Wahrheit im Moment der musikdramatischen Darstellung?
Die Preisträgerin bedankt sich mit Herzenswärme
Wie geplant wortlos übergab der König dann Nina Stemme diesen heimlichen Nobelpreis der Musik, Placído Domingo überbrachte per Video eine gefühlsdichte Botschaft zu Ehren des „größten dramatischen Soprans unserer Zeit“. Und Nina Stemme bedankte sich mit einer Herzenswärme für die Ehrung, die auch ihre Gesangskunst auszeichnet. Auf ein Hörbeispiel davon mussten wir an diesem Abend verzichten. Dafür sorgte eine Einspielung der Wiedererkennungsszene der „Elektra“ durch Birgit Nilsson für den finalen Gänsehautmoment.
Die 31 CDs umfassende, bei SONY neu erschienene Box mit Live-Mitschnitten der Nilsson und die von UNITEL produzierte DVD-Dokumentation „A league of her own“ lassen das Erbe der Legende lebendig werden. Nina Stemme ist derzeit unter Antonio Pappano in London in mehreren „Ring“-Zyklen zu bestaunen.
Sehen Sie die Höhepunkte der Birgit Nilsson Preisverleihung: