Wie wird und bleibt klassische Musik relevant? Was bedeutet Relevanz überhaupt? Ist klassische Musik wirklich „systemrelevant“? Diese Fragen scheinen mit dem erneuten Lockdown aktueller und drängender denn je zu sein. Unter dem Motto „Was jetzt?! Auf der Suche nach der Relevanz von morgen“ tagte die Heidelberg Music Conference mit über 200 Teilnehmern, bestehend aus Intendanten, Kulturmanagern, Künstlern, Studenten und Musikjournalisten, erstmals im digitalen Raum. 2013 wurde die Konferenz von Thorsten Schmidt ins Leben gerufen, seither zählt sie zu einem der wichtigsten Treffpunkte der klassischen Musikindustrie.
Was der Klassikbranche fehle, ist vor allem eine gemeinsame Stimme, im Sinne einer gemeinsamen Allianz, meint Schmidt. Das klingt für Kulturjournalistin Christiane Peitz jedoch wie ein Widerspruch, denn es gebe doch Interessenverbände, die zwar nicht unisono sprechen, sich aber im Kern dennoch einig seien. Auch gebe es eine große Solidarität untereinander. Warum also ist das vorhandene „Wir“ trotzdem nicht wahrnehmbar? Möglicherweise, weil diese Stimme beim Zuwendungsgeber und in der Öffentlichkeit schlicht nicht ankommt. „Das ist eine Investition in die Zukunft unserer Gesellschaft. Und Lösungen können nur im Dialog mit der Politik gefunden werden“, so Schmidt.
„Kultur ist nicht systemrelevant, aber glücksrelevant!“
Mit Carsten Brosda war ein Redner gefunden, der sich nicht mit den üblichen Sonntagsreden zur Kultur begnügt. Die Kulturschaffenden müssten jetzt mit Corona arbeiten, nicht dagegen. Für ihn stellt sich die Frage nach der Systemrelevanz der Kunst überhaupt nicht, denn streng genommen ist sie das nicht. „Kultur darf zerreißen, soll Fragen stellen und uns als Gesellschaft herausfordern, und in der Diskussion darüber finden wir Gemeinsamkeiten“, betont der Senator der Behörde für Kultur und Medien Hamburg.
Hilft es also wirklich, Kunst und Kultur als systemrelevant im Corona-Vergleich mit Krankenhäusern, Pflegeeinrichtungen oder Schulen darzustellen? Gibt es nicht einen anderen Zugang, eine andere historische und gegenwärtige Verankerung, die die Relevanz der Kreativschaffenden bestätigt? Für Peitz steht fest: Sie möchte keine Vergleiche mehr zwischen Baumarkt und Konzertsaal. Der Blick in den lebhaften Live-Chat offenbart: „Kultur ist nicht systemrelevant, aber glücksrelevant!“
Die Lösungen basieren letztendlich auf den altbekannten Ansätzen Nähe und Vielfalt. Stärker in den Fokus rückt das Thema Digitalität, womit nicht nur eine Eins-zu-eins-Übertragung, sondern eine wirkliche Vernetzung von analog und digital gemeint ist.
Nähe durch multifunktionale Konzertgebäude
Relevanz werde zwar oft behauptet, aber nicht ausreichend bewiesen. Carsten Brosda offenbart, dass öffentlich finanzierte Kulturangebote nur zu etwa 50 Prozent genutzt würden. Haben Bürger also die Sorge, dass die Angebote sich nicht an sie richten? Auch wenn Relevanz nicht bedeuten könne, jeden ins Konzert zu locken, seien Angebote doch erst dann relevant, wenn sie frei und öffentlich für alle zur Verfügung stünden.
Julian Rieken von betterconcerts.org bringt es auf den Punkt: Ein „Tag der offenen Tür“ suggeriere doch nur, dass es ansonsten eine geschlossene Gesellschaft ist. Wie können also mehr Menschen unterschiedlichen Interesses zusammengebracht werden? Stichwort: multifunktionale Konzertgebäude und Kulturzentren als begehbare Begegnungsstätten. Bibliotheken, Ausstellungshallen, soziokulturelle Zentren oder Cafés sollten an einem öffentlichen Ort angesiedelt sein, wie etwa im neuen Kulturpalast Dresden, im Gasteig in München oder wie es die ersten Entwürfe für die neue Komische Oper in Berlin zeigen.
Konzertdesigner Folkert Uhde hat mit etwas anderen Konzertformaten, wie beispielsweise einem Liegekonzert, wieder vielen Menschen Lust auf klassische Musik gemacht – auch dem vermeintlich konservativen Konzertpublikum. Das klingt vielleicht nicht mehr allzu innovativ, trotzdem muss ein Veranstalter erst einmal den Mut dazu aufbringen. Solche Erkenntnisse können in mehr guten, sinnvollen und vor allem ernst gemeinten Publikumsbefragungen gewonnen werden. John Sloboda, Professor an der Guildhall School of Music & Drama, hat herausgefunden, dass das Publikum aktiv in ein Konzert miteinbezogen werden möchte, und sei es auch nur durch ein paar persönliche Worte des Künstlers. Interessante Erkenntnisse könnten auch Befragungen außerhalb des Konzertsaals bringen, etwa auf dem Wochenmarkt oder im Fußballstadion.
Komponist Elia Rediger hat seine ganz eigene, pragmatische Herangehensweise entwickelt. Er meint ganz einfach, dass alle Künstler und Institutionen, die sich mit dem System befassen, systemrelevant sind. Für ihn spricht nichts gegen das traditionelle Konzert, doch gebe es noch viele ungenutzte Möglichkeiten, wie die von ihm angedachte Tesla-Oper. Weitere Beispiele sind das „Star Wars“-Open-Air-Konzert mit Anne-Sophie Mutter oder das Projekt „Lied Me!“, bei dem junge Sänger in die Kneipe gehen und das Lied zu den Menschen (zurück-)bringen. Kurzum: Aktuelle Themen und Herangehensweisen machen klassische Musik aktuell und bringen sie ins Bewusstsein der Menschen.
Vielfalt und Diversität
Es geht in erster Linie nicht um die Konkurrenz zwischen neuen Formen und dem traditionellen Konzert, sondern um ein möglichst vielfältiges Angebot für ein vielfältiger werdendes Publikum. Doch mit Vielfalt ist nicht nur das Programmangebot gemeint, sie schließt auch die Diversität unter den Kulturschaffenden selbst ein. Im Chat entbrennt ein reger Meinungsaustausch: „Warum gibt es in europäischen Kulturinstitutionen weniger People of Color als unter den Kulturschaffenden?“ Und: „Ist das Wollen überall da? Menschen mit anderem sozialen Background, anderer Optik, anderem Geruch, anderer Mode im Publikum zu haben?“
Schranken könnten schon bei den internen Strukturen abgebaut werden: Erstens sollten alle Teammitglieder als Experten wahrgenommen werden – eine Frage des Vertrauens und der Delegation. Zweitens sollten neue Positionen nach Vermittlungsqualität oder Führungskultur und nicht nach Namen besetzt werden. Drittens sollten Planungszeiträume verkürzt werden. Veranstalter, wie der Pierre Boulez Saal, arbeiten kurzfristiger und schaffen dadurch ein sehr interessantes Angebot und können in der jetzigen Situation schneller reagieren. Viertens sollten Fördergelder unkomplizierter und spartenübergreifender vergeben werden. Fünftens wurde mehrfach gefordert: Schluss mit der Unterscheidung zwischen E- und U-Musik.
Digitalität
Für Holger Noltze, Musikjournalist, Autor und Professor für Musik und Medien an der TU Dortmund, werde eine Eins-zu-eins-Übertragung von analog zu digital niemals funktionieren. Er betont, dass ästhetische Erfahrungen auch digital möglich seien und ist zugleich der Meinung, dass die sogenannte Hochkultur das Internet noch nicht verstanden habe. Das Digitale dürfe keine Prothese, sondern müsse etwas Eigenes sein.
Auch die bloße Verfügbarmachung von Konserven und Gratiskultur sei nicht die Lösung. „Musiker haben irgendwann festgestellt, dass man ‚Likes‘ nicht essen kann.“ Um gegen die Überflutung von (kostenlosen) Angeboten gewappnet zu sein, brauche es einen Kurator. Essenziell sei die künstlerische und technische Qualität.
Julian Rieken ermutigt zudem, sich mehr mit der Zukunft und mit Visionen zu beschäftigen als mit der Vergangenheit. „Wir müssen Zukunftsszenarien entwickeln und der Digitalisierung freien Lauf lassen, denn so können wir etwas Neues gestalten. Veränderungen bedeuten Verlust und Bereicherung zugleich.“ Dabei steht das Potenzial eines Konzerterlebnisses im Mittelpunkt. Noltze ist der Meinung, dass ein Livestream das leisten und ebenso „Musik für diesen Moment“ schaffen kann. Doch auch hier heißt das unerlässliche Zauberwort „Nähe“, sei es durch Live-Kommentare oder virtuelle Treffen nach dem Konzert.
„Es muss jetzt der Wert von Kunst und Kultur gemeinsam mit der Politik erkannt werden“, fordert Carsten Brosda. „Kultur ist relevant für Sinn und Zusammenhalt unseres gesellschaftlichen Lebens. Ohne Kultur ist alles nichts!“