Wie schon 2020 das Beethoven-Jubiläum wird auch der 100. Geburtstag von Astor Piazzolla am 11. März 2021 durch Corona weitgehend verhagelt. Als Trost für ausgefallene Live-Veranstaltungen gibt es auf dem Klassikmarkt einige Neuerscheinungen, die sich dem legendären Bandoneon-Virtuosen und Komponisten des Tango Nuevo widmen. Eine erste Sichtung im noch frühen Piazzolla-Jahr.
Zum Einstieg:
Astor Piazolla – Libertango
Martha Argerich (Klavier), Gautier Capuçon (Violoncello), Thibaut Garcia (Gitarre), Gidon Kremer (Violine), Emmanuel Pahud (Flöte), Artemis Quartett, Die 12 Cellisten der Berliner Philharmoniker, Kremerata Baltica, Quatuor Ébène u. a.
Warner Classics (LP)
Für Feinschmecker, die den satten Klang auf Vinyl schätzen, gibt die neue Kompilation des Labels Warner einen gelungenen Überblick: Auf der LP „Libertango“ sind bekannte Stücke wie „Oblivion“, „Fuga y mysterio“ und „Libertango“ versammelt. Legendäre Aufnahmen seit den neunzigern mit Stars wie Gidon Kremer und seiner Kremerata Baltica, Gautier Capuçon, Martha Argerich, dem Artemis Quartett und den 12 Cellisten der Berliner Philharmoniker.
Tango Concertante
Arde Trio
Ars
Die verschiedenen Facetten Piazzollas beleuchtet auch die Neueinspielung „Tango concertante“ des Arde Trio. Zwei Streicher und der Bandoneon-Meister Omar Massa zeigen in Stücken aus der Suite „Histoire du Tango“ eindringlich die diversen stilistischen Spielarten Piazzollas. Die Bearbeitung der Filmmusik „Bruno y Sarah“ atmet tiefe Wehmut, „Oblivion“ und „Ave Maria“ geraten zu sehnsüchtigen Seelengemälden, „Libertango“ drängt feurig vorwärts. In Eigenkompositionen versucht Massa die Neuerungen Piazzollas auf dem Bandoneon weiterzudenken.
Absolutes Muss:
Complete Tango!
Isabelle van Keulen Ensemble
Challenge
Die Geigerin Isabelle van Keulen hat mit ihrem Ensemble seit 2013 auf drei Piazzolla-Alben neue Standards gesetzt. Jetzt sind sie als „Complete Tango!“-Box erhältlich. Keulen und ihre drei Mitstreiter an Bandoneon, Klavier und Kontrabass sind intensiv in die Klangwelt Piazzollas eingedrungen. Mit brillanter Technik und sensiblem Stilempfinden zeigen sie die Leidenschaft, die Melancholie, die Energie und den avantgardistischen Biss dieser Musik. „Oblivion“, „Adiós Nonino“ und „Milonga del ángel“ gehen unter die Haut, „Tres minutos con la realidad“ macht die Einflüsse aus dem Rock deutlich.
Bach & Piazzolla
Nikola Djoric (Knopfakkordeon), Kurpfälzisches Kammerorchester
Berlin Classics
Ebenso unentbehrlich für jede Piazzolla-CD-Sammlung ist die Neuaufnahme „Bach & Piazzolla“ vom Akkordeon-Virtuosen Nikola Djoric und dem Kurpfälzischen Kammerorchester. Neben zwei Cembalo-Konzerten Bachs mit Knopfakkordeon spielt Djoric Piazzollas Konzert für Bandoneon, Streichorchester und Schlagzeug „Aconcagua“ mitreißend und atemberaubend: Solist und Orchester beherrschen den Piazzolla-Sound und den rhythmischen Puls. Mit klaren Konturen, der Mischung aus schlanken Strukturen und geräuschhaften Aufrauungen, lässiger Eleganz und schneidender Aggressivität – das alles mit existenzialistischer Unbedingtheit.
Interessante Spielart:
Piazzolla Reflections
Ksenija Sidorova (Akkordeon), Alexander Sitkovetsky (Violine), Claudio Constantini (Klavier), Roberto Koch (Kontrabass), Reentko Dirks (Gitarre), Goldmund Quartett, NDR Elbphilharmonie Orchester, Thomas Hengelbrock (Leitung), BBC National Orchestra of Wales, Clark Rundell (Leitung)
Alpha
Auch die Akkordeonistin Ksenija Sidorova hat Piazzollas Musik für ihr Instrument auf dem Album „Piazzolla Reflections“ übertragen. Zwar fehlen dem Akkordeon gegenüber dem verwandten Bandoneon manche dunklen und körnigen Klangnuancen, doch Sidorova macht dies mit prägnanten Interpretationen wett. Das „Aconcagua“-Konzert mit Thomas Hengelbrock und dem NDR Elbphilharmonie Orchester entwickelt nach diffusem Beginn Feuer. Nur „Libertango“ mit dem BBC National Orchestra of Wales funkelt zu oberflächlich. Daneben gibt es Akkordeon-Stücke von Komponisten unserer Zeit.
Überraschende Perspektiven:
Piazzolla Stories
Lucienne Renaudin Vary (Trompete), Thibaut Garcia (Gitarre), Richard Galliano (Akkordeon), Quatuor d‘Orchestre Philharmonique de Monte Carlo, Orchestre Philharmonique de Monte-Carlo, Sascha Goetzel (Leitung)
Warner Classics
Piazzolla auf der Trompete? Geht das? Und wie! Das beweist die Trompeterin Lucienne Renaudin Vary virtuos auf ihrem Album „Piazzolla Stories“. Sie verfügt über die Souveränität und die Flexibilität, um das breite Ausdrucksspektrum Piazzollas abzudecken: Temperamentvoll und sinnlich in einer Solo-Orchester-Bearbeitung von „Yo soy María“ aus der Oper „María de Buenos Aires“, tief empfunden in „Oblivion“, zart in „Ave Maria“, hymnisch ausgreifend in „Years of Solitude“. Das Orchestre Philharmonique de Monte-Carlo mit Sascha Goetzel und profilierte Solisten ziehen inspiriert mit.
Eight Seasons Evolution
The Twiolins
Note 1
Genauso überraschend ist die Annäherung an Piazzolla mit Geigenduo: Vivaldis „Vier Jahreszeiten“ mit Piazzollas Pendant „Quatro estaciones porteñas“ zu kombinieren ist schon ein alter Hut. Aber das Duo The Twiolins findet auf „Eight Seasons Evolution“ einen neuen Dreh. Den Einzelsätzen aus Vivaldis Zyklus ordnen sie systematisch Stücke von Piazzolla bei, die in Ausdruck und Struktur passen, von „La Muerte del ángel“ bis „Buenos Aires hora cero“. In diesen grandiosen Bearbeitungen gelingt ein wahres Farbenfeuerwerk. The Twiolins beweisen ein faszinierend breites Ausdrucks- und Gestaltungsspektrum sowie Mut zum Experiment. Unaufhörlich spannend!
Enttäuschend:
Patagonia Express Trio – Piazzolla
Oscar Bohórquez (Violine), Claudio Bohórquez (Violoncello), Gustavo Beytelmann (Klavier)
Berlin Classics
Im Bemühen um Authentizität haben sich die Geschwister Oscar und Claudio Bohórquez, Violine und Cello, auf ihrer Piazzolla-Spurensuche mit dem Pianisten und Komponisten Gustavo Beytelmann zum Patagonia Express Trio zusammengetan. Beytelmann hat mit Piazzolla in den 1970ern gearbeitet. Das Ergebnis bei „Quatro estaciones porteñas“ und anderen Stücken Piazzollas ist leider blutarm, alles wirkt akademisch brav und ohne Biss. Die Jazz-Aspekte Piazzollas finden sich allenfalls gelegentlich in Beytelmanns Klavierpart.
Romance del Diablo – The Music of Piazzolla
Marco Albonetti (Saxofon), Orchestra Filarmonica Italiana
Chandos
Der Saxofonist Marco Albonetti, der gemeinsam mit dem Orchestra Filarmonica Italiana die Musik Piazzollas erkundet, zeigt auf dem Album „Romance del Diablo“ virtuos seine Fähigkeiten. Nur leider hat dies wenig mit Piazzolla zu tun. Das Klare, Kantige, die schlanken Melodien, die Akzente auf den Punkt verwischen hier, weil Albonetti viel zu viele Jazz-Schlenker in seiner Phrasierung bringt. In Momenten, in denen sich Albonetti etwas zurücknimmt, funktioniert es besser.
Zum Vergessen:
Tango in the Night
Daniel Binelli (Bandoneon), Polly Ferman (Klavier), Leanne Nicholis (Oboe), City Chamber Orchestra of Hong Kong, Germán Augusto Gutiérrez (Leitung)
Orchid Classics
Der Anspruch des Albums „Tango in the Night“: Die Entwicklung des Tangos auszubreiten, von seinen Anfängen über Piazzollas Tango Nuevo bis zu Stücken von Daniel Binelli, der als Bandoneonist zusammen mit dem späten Piazzolla spielte. Aber das Resultat mit Binelli, dem City Chamber Orchestra of Hongkong, dem Dirigenten Germán Augusto Gutiérrez und der Pianistin Polly Ferman ist ein einziges großes Missverständnis: dicke Orchestersoße, zu viel Melodramatik, süßlich, romantisierend – als wäre Piazzolla in die Fänge von Sergej Rachmaninow und John Williams geraten.
Für Fortgeschrittene:
Piazzolla: The Years of the Shark
Dokumentarfilm von Daniel Rosenfeld
EuroArts (DVD/Blu-ray)
Das neu auf DVD und Blu-Ray erschienene Filmporträt „Piazzolla: The Years of the Shark“ ist in enger Zusammenarbeit mit Daniel Piazzolla, dem Sohn des Komponisten, entstanden. Regisseur Daniel Rosenfeld verwendet Audiomitschnitte, Fotos und private Filme aus dem Familienarchiv, dazu TV- und Radio-Dokumente. Eine detailversessene, persönliche Annäherung, die den Lebensweg Piazzollas aufzeigt, in Argentinien, den USA, Frankreich, Italien, auf Tourneen: Piazzolla, der Eigensinnige, der Kämpfer, der Getriebene, der experimentierende Feuerkopf. Wegen der Materialflut und der vielen Sprünge, auch zwischen den Lebensphasen, dürfte vor dem Film ein kurzer Blick in Piazzollas Biografie nötig sein.