Mit seinen wachen Augen und seinem fröhlichen Lachen zieht Zvi Cohen jeden sofort in seinen Bann – selbst wenn nur ein Videochat möglich ist. In seinem Wohnzimmer im israelischen Kibbuz Ma’abarot, in dem er seit 1945 lebt, erzählt Cohen eindringlich von seiner verlorenen Kindheit in Nazi-Deutschland und seinem Überleben in Theresienstadt. Immer mit dabei: die Mundharmonika, mit der er das Erzählte untermalt.
Herr Cohen, wie erinnern Sie sich heute an Ihre Kindheit in Berlin?
Zvi Cohen: Ich wurde 1931 geboren und wuchs auf in einer Zeit der Unterdrückung. Durch die Nürnberger Gesetze wurde den Juden in Deutschland nach und nach alles an Freiheit und Besitz weggenommen. Wir durften kein Radio, kein Telefon, keine Fahrzeuge besitzen oder gar benutzen, nicht einmal eine Zeitung konnten wir kaufen. Ich hatte ein Aquarium mit zwei Fischen, einen Vogelkäfig mit zwei Kanarienvögeln, ein kleines Klavier, eine Gitarre – alles weg. Nur eine Blockflöte und eine Mundharmonika durfte ich behalten.
Ab dem 1. September 1941 waren alle Juden dazu verpflichtet, einen Judenstern zu tragen. Wie hat sich dadurch Ihr Alltag verändert?
Cohen: Ab diesem Moment verließ ich unsere Wohnung im 4. Stock der Zedenicker Straße nicht mehr. Fast zwei Jahre war ich ununterbrochen zu Hause. Meine Eltern mussten Zwangsarbeit leisten, so dass ich fast den gesamten Tag alleine war. Da ich nicht zur Schule gehen konnte, übte ich Mundharmonika und lernte alle deutschen Volkslieder und Märsche, die über die Volksempfänger unserer Nachbarn laut zu hören waren.
Sie sagen, dass die Mundharmonika Ihnen mehrmals das Leben gerettet habe. Wie das?
Cohen: Wir wussten, dass die meisten Deportationen nachts stattfanden, zwischen zwei und vier Uhr. Uns war klar, dass es auch uns treffen würde. Für uns als Familie war nur eines wichtig: Wir wollten zusammenbleiben. Es war der 7. Mai 1943 um zehn Uhr vormittags: Ich war alleine in der Wohnung und hörte das Geräusch schwerer Stiefel auf der Treppe. Jemand schrie: „Aufmachen!“ Draußen standen zwei Ungetüme. Soldaten der SS, Schaftstiefel bis zu den Knien, die SS-Blitze am Revers und den Totenkopf mit den gekreuzten Knochen auf der Schirmmütze. Ich begann, furchtbar zu weinen. Der eine sagte: „Pack deine Sachen!“ Also nahm ich Zahnbürste, Zahnpasta, Seife und meine Mundharmonika. „Wat is’n ditt?”, fragte er. Ich antwortete: „Eine Mundharmonika.“ Er: „Und was machste damit?“ Weinend sagte ich: „Ich spiele“, und er gab mir den Befehl: „Spiel mer ma watt vor!“ Ich hatte Todesangst, aber ich erinnerte mich an das Lied „Ich hatt’ einen Kameraden“. Der SS-Mann neben mir stand ganz stramm da, und ich sah in seinen Augen eine Träne. Ich spielte ihnen außerdem Lili Marleen vor und merkte, dass ich die beiden erreichen konnte.
Eine schreckliche Situation für ein Kind, ganz alleine …
Cohen: Das war zwei Wochen vor meinem zwölften Geburtstag! Ich hatte nichts zu verlieren, nahm meinen Mut zusammen und bat darum, beim Friseur im Erdgeschoss das Telefon zu benutzen, um meine Eltern anzurufen. Die SS-Männer gaben mir die Erlaubnis, ich flitzte runter, erreichte meinen Vater und rannte die vier Stockwerke wieder rauf. Am Küchentisch fand ich die beiden: Sie hatten ihre Mützen abgenommen – und da saßen einfach nur zwei Menschen und sagten: „Spiel!“ Also kramte ich mein gesamtes Repertoire an deutschen Volksliedern hervor. Und als meine Eltern fast zwei Stunden später nach Hause kamen, hörten sie Grölen und Mundharmonikaklänge durchs Haus schallen. Wir packten unsere Sachen und verließen alle gemeinsam unsere Wohnung. Die beiden SS-Soldaten halfen uns sogar noch, alles nach unten zu bringen. Ich behaupte, dass die Mundharmonika mir und meinen Eltern damals zum ersten Mal das Leben gerettet und den Soldaten ein wenig Menschlichkeit zurückgegeben hat.
Aber das war nicht das letzte Mal, dass Ihnen die Mundharmonika geholfen hat …
Cohen: Oh nein! Auch in Theresienstadt, wohin meine Eltern und ich deportiert wurden, war sie wichtig für mich. Für die Nazis waren wir das Vorzeigelager, ein „Kulturlager“, in dem die Kunst und Intelligenz von ganz Zentraleuropa gezwungenermaßen zusammenfand. Dort trafen sich Komponisten, Schriftsteller, Maler, Professoren, die Besten der Besten. Es gab keine Revolte, sondern wunderbare Konzerte! Und die Deutschen lieferten sogar Instrumente an!
Wie haben Sie die Kultur im Lager Theresienstadt erlebt?
Cohen: Wie alle Kinder im KZ wirkte ich an den Aufführungen von Hans Krásas Kinderoper Brundibár mit, obwohl man die Mundharmonika im Orchester natürlich nicht besonders gut hörte. Dieses Stück wurde 55 Mal in einem Jahr gespielt, also jede Woche mindestens einmal. Es gab kein Kind in Theresienstadt, das diese Oper nicht gesehen hat. Für mich und die anderen Kinder waren Brundibár und die Konzerte die einzigen Lichtblicke im Lagerleben. Wir mussten alles rund um die Oper lernen, denn oft gingen Transporte nach Osten. Bei jeder Vorstellung hatte man tragischerweise eine neue Besetzung. 15 000 Kinder wurden durch dieses Lager geschleust. Von ihnen überlebten nur 150. Ich bin eines von ihnen.
Musik und Kultur haben die Menschen künstlich am Leben erhalten.
Cohen: Das ist richtig, denn das Essen im Lager reichte nie aus. Ab einem bestimmten Punkt wusste ich, dass ich es mit den Rationen so nicht schaffen würde. Aber die Musik machte mich erfinderisch. Ich hatte im Lager einen ehemaligen Wiener Sängerknaben kennengelernt, er hatte eine glockenhelle Stimme. Wir zogen durch die Höfe Theresienstadts und spielten und sangen. Geld gab es nicht, aber man gab uns kleine Brotkrümel als Lohn in die Mütze – und diese Krümel waren viel mehr wert als alles Geld der Welt. Sie waren meine Lebensretter! Auch die Konzerte hielten uns am Leben. Wenn es ein Konzert gab, wurde es vorher und in den Pausen ganz still – dann hörte man unsere Mägen vor Hunger knurren! Doch sobald die Musik einsetzte, vergaßen wir alles. Wir haben die Musik nicht nur erlebt, sondern gelebt. Die Kultur wurde zu unserer Waffe gegen die Deutschen!
Sie wurden im Februar 1945 durch einen Transport in die Schweiz gerettet und wanderten kurz darauf ins damalige Palästina aus. Wie sieht Ihr Leben heute aus?
Cohen: Vom deutschen Juden Horst Cohn wurde ich zu Zvi Cohen, der seit fast 76 Jahren in Israel im Kibbuz Ma’abarot lebt. Mein Bruder Abi wurde hier geboren als freier Jude im damaligen Palästina. Mein größter Sieg über die Nazis ist nicht, dass wir Theresienstadt überlebt haben, sondern dass mein Bruder in Freiheit geboren wurde und frei aufwachsen konnte. Ich habe vier Kinder, sechs Enkelkinder und zwei Urenkel, mein Bruder bekam fünf Kinder und vier Enkelkinder. Wir haben eine riesige Familie aufgebaut und haben hier ein neues, glückliches Leben gefunden.
Was wurde aus der Mundharmonika?
Cohen: Die habe ich beiseite gelegt. Aber ich hole sie zu jedem Familiengeburtstag oder bei Feiern im Kibbuz heraus und spiele sie natürlich, wenn ich meine Geschichte erzähle. Ich werde auch oft gefragt, ob es dasselbe Instrument ist, das ich in Theresienstadt bei mir hatte. Aber das wäre gar nicht möglich: Mundharmonikas verstimmen sehr leicht, und man muss sie irgendwann wechseln.
So ganz lässt Sie das Instrument also nicht los!
Cohen: Ich spüre, dass in meiner Lebensgeschichte die Mundharmonika eine große Rolle gespielt hat. Wenn ich von meinen Erlebnissen erzähle, möchte ich zwei Dinge erreichen: den Kopf und das Herz der Zuhörer. Die Musik hilft mir dabei. Selbst bei jungen Menschen funktioniert das. Ich spreche gegen das Vergessen und für das Erkennen von Bedrohungen. Das ist meine Aufgabe.
Am 8.7.2021 um 19:00 Uhr spricht Zvi Cohen für concerti-Leser im Livestream über sein Leben. Für weitere Informationen zum Livetalk sowie zur Anmeldung klicken Sie bitte hier. Anmeldeschluss ist der 7. Juli. Wir freuen uns auf Sie!
Sehen Sie hier das Interview mit Zvi Cohen: