Genau genommen heißt er ja Aleksejonok. Aber wegen der unterschiedlichen Schreibweisen seines Namens in Belarus hat sich der Dirigent zur Vereinheitlichung kurzerhand ein „Tenuto“ auf dem langen „e“ zugelegt. In Düsseldorf beerbt er nun GMD Axel Kober als Chefdirigent.
Wir treffen uns in Dresden, wo Sie bei der Staatskapelle einspringen. Quantensprung oder normales Geschäft?
Vitali Alekseenok: Geschäft würde ich das gar nicht nennen. Für mich ist das eine große Ehre, hier erstmals angefragt worden zu sein. Ich habe schon anderswo ablehnen müssen, entweder weil ich die Werke nicht so gut kannte oder weil ich keine Zeit hatte. Hier hat alles gepasst.
Mit 33 Jahren sind Sie einer der jüngsten Chefdirigenten weltweit. Sie lachen, aber wie macht man das?
Alekseenok: Es gibt schon noch ein paar jüngere. Ein Ziel war das nicht, es hat sich so ergeben. Schon fünf Monate, nachdem ich in Düsseldorf anfing und klar war, dass Axel Kober nicht verlängert, wurde mir seine Stelle angeboten. Das kam schnell und unerwartet. In dieser kurzen Zeit wurde ich ein bisschen geprüft und bekam mehr Aufgaben, die ich gerne übernommen habe. Für junge Menschen ist so eine Leiterposition ja eine Herausforderung, für mich ist es die erste. Ich habe in der letzten Spielzeit viel von Axel Kober lernen können, so dass es ein gelungener Übergang war. Ich sehe das als große Verantwortung.
Was macht den Unterschied zwischen Generalmusikdirektor und Chefdirigent?
Alekseenok: Ein Generalmusikdirektor hat üblicherweise mehr Zeit, auch längerfristig zu planen. Als Chefdirigent konzentriert man sich mehr auf die rein musikalische Arbeit. Ich möchte nicht über die Schicksale von Künstlern entscheiden.
Was haben Sie vor?
Alekseenok: Zuallererst möchte ich bei meinen Produktionen musikalisch überzeugen. Ich beginne jetzt mit Verdis „Nabucco“, danach folgen „Lady Macbeth von Mzensk“ und „Eugen Onegin“. Zudem übernehme ich einige Wiederaufnahmen.
Ein sehr unterschiedliches Repertoire. Wie erarbeitet man sich solche Vielseitigkeit?
Alekseenok: Von Anfang an fühlte ich mich der italienischen, deutschen und slawischen Musikwelt sehr verbunden. Als Belarusse wohne ich in Deutschland, und mein erster Dirigierlehrer in Sankt Petersburg, der deutsche Gedichte aus dem Kopf rezitieren konnte, hatte bei Hans Swarowski in Wien studiert, gemeinsam mit Giuseppe Sinopoli. Daher kommt wohl die Vielfalt meiner musikalischen Interessen. Die italienische Oper hat mich noch als Teenager fasziniert. In Italien war ich einige Male auf Studienreise, habe dort den Toscanini-Dirigierwettbewerb und einige Preise gewonnen. Seitdem ist auch der Belcanto meine musikalische Heimat, und noch vor der Pandemie habe ich Italienisch gelernt. Das Französische muss ich noch lernen. Das wird meine siebte Sprache.
Welche Beziehung haben Sie persönlich zu Düsseldorf?
Alekseenok: Das war 2012 die erste Stadt, die ich in Deutschland besucht habe. Kürzlich bekam ich eine Privatführung, und da habe ich sehr viel gelernt. Seitdem ist mir die Stadt sehr nah. Hier kann man sehr gute Kunst machen. Mit Düsseldorf und Duisburg bespielen wir ja zwei Städte mit sehr unterschiedlicher Kultur zwischen Rheinland und Pott. Beides hat seinen Reiz. Nordrhein-Westfalen entdecke ich aber jetzt erst. Das ist natürlich ein großer Unterschied zu meiner Heimat.
Sie stammen aus einem Elternhaus ohne Berufsmusiker. Liegt gerade in Osteuropa mit seiner reichen Folklore den Menschen die Musik im Blut?
Alekseenok: Ich glaube, Musik haben alle Völker in den Genen, gerade auch in Italien. Aber ich würde schon sagen, dass sie als Folklore in den slawischen Ländern eine größere Bedeutung hat als zum Beispiel hier. Ihre unmittelbare Wirkung kann viele Menschen vereinen und nach einem harten Arbeitsalltag entspannen. Viele dieser langgezogenen, langsamen Lieder in Moll singen sich schön, weil sie sich aus der menschlichen Stimme entwickelt haben. Auch meine Mutter hat auf dem Dorf viel gesungen. Auch als Teenager hat uns diese Musik am Lagerfeuer sehr bereichert.
Sie lernten aber Posaune.
Alekseenok: Wie es oft ist, wurde ich gezwungen, ein Instrument zu lernen, bevor ich selbst von der Musik „erweckt“ wurde. Mein Vater hat auf dem Dach ein Bajan von meinem Großvater gefunden, also ein Knopfakkordeon. Ich habe das nicht geliebt. Als ich elf Jahre alt war, wurde mir Asthma diagnostiziert. Um die Lunge zu trainieren, blieb nur die Posaune, denn ein Saxofon, das ich eigentlich spielen wollte, gab es in der kleinstädtischen Musikschule nicht. Das war eine folgenreiche Entscheidung, denn mein vielseitiger Lehrer hat seine Liebe zur Musik auf uns übertragen. Ich war der Einzige, der neben Jazz und Funk auch Klassik gemacht hat, und so kam ich erst nach Minsk, dann nach Sankt Petersburg zum Studieren. Als Bläser hatten wir in Minsk auch Dirigierunterricht, und dahinein habe ich mich dann verliebt.
Mit neunzehn Jahren dirigierten Sie zum ersten Mal das Studentenorchester.
Alekseenok: Das war die Ouvertüre zu Rachmaninows Oper „Aleko“, und ich war fasziniert von diesem vollen Orchesterklang, den ich bis dahin ja nur vom hinteren Pult kannte. Seitdem trage ich diesen gewaltigen Klang im Kopf mit mir. Das hat mein Leben sehr stark verändert.
Wie kamen Sie dann nach Westeuropa?
Alekseenok: Als Belarusse haben Sie immer einen Minderwertigkeitskomplex, dass Sie nicht so frei leben können. Den Wunsch, deswegen nach Deutschland zu kommen, teile ich mit vielen Landsleuten. Der Wunsch nach Demokratie und Meinungsfreiheit hat mich letztlich hierhergebracht. Als ich in Sankt Petersburg fertig war, konnte ich mich in Weimar dann gut entfalten, wo ich mitten in der Pandemie abgeschlossen habe.
Nun gibt es einige Dirigierstudenten, von denen es sehr wenigen gegeben ist, kurz nach ihrem Abschluss an der Mailänder Scala zu debütieren.
Alekseenok: Das hatte mit dem Dirigierwettbewerb zu tun, den ich gewonnen habe. Der hat für Aufmerksamkeit gesorgt. Kurz danach hatte ich zum Beispiel auch in der Ukraine im Luftschutzkeller dirigiert. Zur gleichen Zeit suchte Düsseldorf einen Dirigenten. In meinem Leben fand irgendwie bisher immer alles gleichzeitig statt.
Wie kam es dazu, dass Sie sich auch als politischer Aktivist erweckt fühlten?
Alekseenok: In der Kunst hatte ich schon viel Freiheit gespürt. Daher erlebte ich einen Widerspruch zu dem Leben, das ich in meiner Heimat und in Russland geführt habe. Als freier Musiker wollen Sie auch eine freie Persönlichkeit sein. Viele Menschen in der Sowjetunion und ihren Nachfolgestaaten haben in der Kunst Zuflucht gesucht.
Empfinden Sie eine Verantwortung gegenüber Ihrem Land und seiner Bevölkerung?
Alekseenok: In der Politik gibt es manchmal Momente, in denen sehr viele in eine Richtung schauen. So war es auch 2020 vor den Präsidentschaftswahlen in Belarus – mitten in der Pandemie, die von der Regierung völlig ignoriert wurde. Deswegen hat sich die Zivilgesellschaft sehr aktiviert und hat selbst etwas unternommen. In so einem autokratischen Land ist es das Schlimmste für eine Regierung, wenn die Menschen nicht mehr separiert sind. Die Proteste sind weniger durch politische Ziele entstanden, sondern aus Empörung darüber, dass die menschliche Würde mit Füßen getreten wurde. Als Gegenwaffe haben wir auf den Straßen Plakate gemalt, unserer Kreativität freien Lauf gelassen und belarussische Lieder gesungen. Aus diesem unmittelbaren Erleben ist dann auch mein Buch entstanden. Leider ist die Revolution gescheitert, es gibt Tausende politische Gefangene. Viele haben das Land verlassen oder können nicht mehr zurückkommen, so wie ich.
Inwieweit kann Kunst trotzdem zur Befreiung beitragen?
Alekseenok: Ich würde schon sagen, dass Kunst in allen Zeiten den Menschen Halt gegeben hat, wenngleich nie allen in selben Maße. Wir müssen uns um jeden Einzelnen bemühen, damit möglichst viele die Chance bekommen, Kunst zu erleben. Wenn wir statt zehn hundert erreichen, ist das ein großes Glück.
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