Sie solle alle ihre bisherigen Kompositonen wegwerfen: Das war das Erste, was György Ligeti zu Unsuk Chin sagte, als sie 1985 bei ihm anfing zu studieren. Die zierliche Südkoreanerin war stark genug, diesen Affront zu verkraften und richtig einzuordnen. Eigenwillig wie sie war, ging sie ihren Weg und wurde mit Preisen bedacht, unter anderem 2004 mit dem Grawemeyer Award für ihr Violinkonzert. In Berlin, wo sie seit vielen Jahren lebt, ist sie nun beim Musikfest mit drei ihrer intensivsten Stücke vertreten.
War das nicht ein Schock, als György Ligeti Ihnen sagte, Sie sollen alle Ihre Musik in den Müll werfen?
Unsuk Chin: Das war ein Schock, na klar. Er lehnte alles ab und sagte, ich müsse erst mal meine eigene Sprache finden. Aber das war okay. Tabula rasa! Denn es lag ja nicht an ihm, sondern an mir. Meine Welt war so eng, ich war so jung und hatte keine Ahnung. Das muss man erst mal verstehen, was es bedeutet, Künstler zu sein. Da fing das Leiden an (lacht). Die Zeit bei Ligeti in Hamburg war anstrengend. Ich habe diverse Stunden einfach verpasst, was ziemlich dumm von mir war. Wäre ich öfter hingegangen, hätte ich viel mehr Geschichten zu erzählen! Ich habe sogar für fast drei Jahre aufgehört zu komponieren. Schließlich bin ich nach Berlin übergesiedelt und habe durch die Arbeit im Elektronischen Studio der TU wieder den Anschluss ans Komponieren gefunden. Das war eine wichtige Erfahrung für mich, auch wenn ich heute keine elektroakustische Musik mehr schreibe und beim Komponieren selbst nie Computer oder andere Hilfsmittel verwende.
Schon mit dreizehn Jahren haben Sie sich entschieden, Komponistin zu werden. Gab es einen zufälligen Auslöser oder war es Ihr unbedingter Wille?
Chin: Mein Musiklehrer in der Schule war Komponist. Er hat mir einige Male kostenlosen Klavierunterricht gegeben. Irgendwann sagte er, ich solle doch mal aufschreiben, wie es klingen würde, wenn Mozarts „Kleine Nachtmusik“ nicht auf dem Klavier gespielt wird, sondern von fünf Streichern. Das habe ich gemacht. Er schaute sich das an und sagte, ich könne Komponistin werden. Meine ältere Schwester hat damals Gesang studiert und brachte Bücher zur Harmonielehre mit nach Hause. Die habe ich gelesen und fand das toll. Natürlich habe ich auch Musik gehört – auf einem kleinen Transistorradio! Unsere Eltern lebten bescheiden und mussten mit wenig Geld auskommen. Aber in der Schule gab es viele Schallplatten. Beethoven, Brahms und Mozart habe ich gerne gehört. Und viel Tschaikowsky und Strawinsky.
Und dann begannen Sie Ihr Studium?
Chin: Nein, für ein Kompositionsstudium war kein Geld da. Also habe ich mir zunächst alles autodidaktisch beigebracht. Als ich mich dann doch in Seoul bewerben konnte, bin ich folgerichtig durch die Prüfungen durchgefallen, zweimal. Die Regeln waren auch sehr starr und strikt. Diese Enttäuschung hat mich sehr geprägt. Wer in Südkorea Musik studiert, kommt meistens aus einer wohlhabenden Familie mit entsprechenden gesellschaftlichen Verbindungen und konnte sich vorher informieren, wie die Prüfung abläuft. Ich fühlte mich als Außenseiterin, sozial wie auch musikalisch. Und so fühle ich mich noch heute, trotz des Erfolgs. Ich fühle mich niemals dazugehörig. Das macht mich nicht traurig, es ist halt so. Ich brauche das sogar irgendwie, eine Außenseiterin zu sein. Zu viel Respekt und Ansehen sind ungesund. Ich mag so einen Status überhaupt nicht.
Im dritten Anlauf hat es dann geklappt …
Ja. Vielleicht auch deshalb, weil es genau in diesem Jahr nur wenige Bewerber gab (lacht). Mein Leben bewegte sich damals auf dünnem Eis. In Südkorea hatte ich keine Perspektive, also bin ich schließlich nach Europa gegangen. Ein Stipendium des DAAD half finanziell, in Hamburg mein Studium fortzusetzen. Zum Glück habe ich bei Ligeti studiert. Denn der hat nicht gesagt: Du bist fantastisch, mach so weiter! Das hätte mich komplett verdorben. Überschwänglichem Lob sollte man nie trauen. Selbst wenn ich einen Preis gewinne, sagt mir eine innere Stimme: Das ist es nicht. Oder noch nicht.
Beim Musikfest Berlin sind Sie mit drei Werken vertreten, unter anderem mit dem Cellokonzert.
Chin: Die Jahre 2008 und 2009 waren eine sehr kreative Zeit für mich. Mit dem Cellokonzert wurde ich bereits 2001 von den BBC Proms beauftragt, nachdem ich Alban Gerhardt kennengelernt hatte. Vorher war meine Musik eher abstrakt, nie personenbezogen. Ich habe mich lange damit gequält, die Arbeit anzufangen. 2007 sollte das Cellokonzert uraufgeführt werden. Alban Gerhardt war als Solist schon gebucht, aber ich hatte noch keine einzige Note geschrieben! Dann war die Uraufführung für 2008 geplant und es war immer noch nicht fertig. Endlich habe ich es geschafft, in dieser produktiven Phase. Gleich darauf habe ich ohne Pause „Šu“ komponiert, das Konzert für Sheng, die uralte chinesische Mundorgel. Dafür habe ich nur acht Wochen gebraucht. Und danach habe ich „Gougalōn“ geschrieben. Anscheinend hat irgendein Geist von mir Besitz ergriffen – ich habe keine Ahnung, wie das kam. Das habe ich nie wieder danach erlebt.
Können Sie die Sheng näher beschreiben?
Chin: Das Instrument ist über 3.500 Jahre alt. In Südkorea spielt das Instrument eigentlich keine große Rolle in der traditionellen Musik. Anders als in China wurde es hier nicht weiterentwickelt. Das liegt vielleicht daran, dass es nicht dem Klangideal traditioneller koreanischer Musik entspricht, wo man mit Tonhöhenschwankungen arbeitet. Das Instrument spielt eher im Hintergrund und wird nicht solistisch eingesetzt. Heutige Instrumente sind enorm vielseitig. Mittels Klappenmechanik wurden Chromatik, Mehrstimmigkeit und ein enormer Tonumfang ermöglicht, die zusammen mit der klanglichen Vielseitigkeit und der Variabilität in der Dynamik zur Faszination beitragen. Dazu kommen die hohen Anforderungen, die dem Spieler abverlangt werden. Denn die Töne werden sowohl beim Ausblasen als auch beim Einatmen erzeugt. Man kann auf diesem Instrument unglaublich viele Töne gleichzeitig spielen und dadurch sehr viele verschiedene Harmonien ein- und ausblenden. Vom Farbklang her passt das Instrument sehr gut zu jeder Gruppe des Sinfonieorchesters, ob Streicher, Holzblasinstrumente oder auch Schlagzeug. Mein Konzept für „Šu“ war, mit der Größe des Instruments zu spielen. Das ganze Orchester ist eine Sheng, zusammen mit dem Soloinstrument wird es zur „Hyper-Sheng“.
Wann haben Sie das Instrument zum ersten Mal gehört?
Chin: Ich habe es als Kind irgendwo auf dem Land gehört, an einem verregneten Tag auf einem Berg in großer Entfernung. Ich wusste nicht, was das war, aber der Klang hat mich sofort fasziniert. Es weckte ihn mir eine unglaubliche Sehnsucht. Ich habe das Instrument dann wiederentdeckt, als ich den chinesischen Virtuosen Wu Wei in Berlin auf einer Hochzeit kennengelernt habe. Es gab ein musikalisches Programm und er spielte als Letzter. Die ganze Person, der ganze Körper war Musik. Ich bin fast in Ohnmacht gefallen! Es gibt tatsächlich eine Videoaufzeichnung, bei der mein Gesicht und meine Überraschung zu sehen sind. Nach dem Auftritt sagte ich ihm sofort, dass ich unbedingt ein Stück für ihn schreiben muss. Insgesamt hat er fast zweihundert neue Werke uraufgeführt. Ein Ausnahmemusiker.
Beim Musikfest erklingt außerdem „SPIRA“. Was bedeutet der Name?
Chin: Der Name „SPIRA“ bezieht sich auf die harmonische Struktur, die wie eine Spirale aufgebaut ist und sich nach oben schraubt, dann wieder zurück nach unten. Es ist eine schwindelerregende Bewegung, wie im Hitchcock-Film „Vertigo“ mit dem berühmten Zoomeffekt. Ein Strudel, in den man hineingezogen wird. Wenn die Bässe spielen, könnte man den Eindruck haben, dass sich der Boden unter den Füßen bewegt. Eine akustische Bewegung im Raum, nicht horizontal, sondern vertikal. Dazu kommen viele kleine Fragmente, die sich gedanklich in eine ganz andere Richtung entwickeln, als man vermuten könnte. Der Titel bezieht sich auch frei auf das Konzept der Spira mirabilis, die auf den Mathematiker Jakob Bernoulli aus dem 17. Jahrhundert zurückgeht. Denken Sie etwa an die Form von Schneckenhäusern, Spiralgalaxien, die Anordnung von Kernen in der Blüte einer Sonnenblume. Biologische Prozesse des Wachstums und der Metamorphose dienten mir als Gundlage: Komplexe Texturen entwickeln sich aus einfachen Keimen auf unerwartete Weise. Naturwissenschaft, Physik oder auch kosmologische Konzepte haben manchen Werken von mir als Inspiration gedient.
Stichwort Inspiration: Wie kommen die Ideen in den Kopf?
Chin: Wenn ich das wüsste, würde ich es dozieren und damit mein Geld verdienen. Es hängt erstens sicher mit gewissen Hirnstrukturen zusammen und zweitens an der eigenen Haltung, immer neugierig zu bleiben. Und das Wollen ist ganz wichtig. Ich will das, weil ich unzufrieden bin. Das spielt bei mir eine wichtige Rolle. Ich bin konstant mit mir selbst unzufrieden. Wenn alles vollbracht wäre, gäbe es ja nichts mehr zu tun, nicht wahr?
Wie kann man sich Ihren Alltag vorstellen? Wie ist Ihr Tagesrhythmus?
Chin: Ich bin ein sehr impulsiver Mensch. Entsprechend ist mein Alltag improvisiert, trotz Familie und mittlerweile erwachsenem Sohn. Der ist ausgezogen, gottseidank (lacht laut)! Nee, alles okay bei uns.
Sie leben seit 1988 in Berlin. Was bedeutet diese Stadt für Sie?
Chin: Sie erlaubt es einem, sehr frei zu leben. Das schätze ich außerordentlich an Berlin. Auf der einen Seite ist die Stadt sehr international, kosmopolitisch. Auf der anderen Seite aber, wenn ich nur einige Straßen weiter gehe, lande ich in einer anderen Welt, wo Würstchenbuden und Eckkneipen das Bild prägen. Berlin ist eine Stadt der Parallelwelten.