Sie haben einmal gesagt, ein Tag ohne Bach sei für Sie unvorstellbar. Wann und wie haben Sie Ihre Liebe zu diesem Komponisten entdeckt?
Ton Koopman: Ich habe schon mit sechs oder sieben Jahren in einem katholischen Knabenchor Bachchoräle gesungen. Diese schöne Musik hat mich sofort ergriffen und sie ergreift mich noch heute.
Dann haben Sie ziemlich schnell den Weg zur Orgel gefunden …
Koopman: Schon nach einem halben Jahr Klavierunterricht habe ich im Alter von zehn Jahren in unserer Kapelle in Zwolle die Orgel gespielt, nachdem unser Organist verstorben war. Vier Jahre lang hatte ich immer Zugang zu dem Instrument, und das habe ich natürlich ausgenutzt. Immer wieder fragte ich den Orgellehrer unserer Musikschule, ob er mir Unterricht geben kann. Aber er meinte, ich sei noch zu klein und könne mit meinen Füßen das Pedal nicht erreichen. Dabei hatte ich mir das Pedalspiel schon längst selbst beigebracht, indem ich beim Spielen über die Orgelbank rutschte, wodurch meine Hosen schnell Löcher bekamen. Meine Mutter fand das nicht so toll, aber sie hat die Hosen immer wieder geflickt. Mit vierzehn Jahren bekam ich dann eine Anfrage für eine Organistenstelle aus Almelo. Ich nahm das Angebot an und verdiente plötzlich so genauso viel wie mein Vater. Dann bekam ich eine weitere Anfrage aus einer anderen Stadt und wurde Organist in einer der ersten katholischen Kirchen Hollands, die eine Orgel mit Rückpositiv hatte. Damit war ich wirklich sehr glücklich. Heute befindet sich das Instrument irgendwo in Polen. Die Kirche existiert nicht mehr.
Ihr Vater war auch Musiker und im Jazzmetier unterwegs …
Koopman: Er war Schlagzeuger, und ich habe immer sehr fasziniert zugeschaut, mit welcher Freude bei seinen Jamsessions musiziert wurde. Diese Freude beim Musizieren habe ich übernommen und mir bis heute bewahrt. Meine jüngste Tochter Marieke singt Jazz und kann sehr gut improvisieren.
Es gibt auch eine Aufnahme mit Ihnen zusammen …
Koopman: Für ihre erste CD-Aufnahme hat Marieke mich gefragt, ob ich ein Lied von George Gershwin begleiten würde. Ich habe zugesagt, obwohl ich mich im Jazz überhaupt nicht auskenne. Die Harmonien waren dann aber sehr logisch für mich. Wenn meine Tochter jetzt irgendwo auftritt, fragen die Organisatoren oft, ob wir auch das Cembalo mitbringen. In den 1940er- und 1950er-Jahren kam das Cembalo ja auch in der Jazzmusik zum Einsatz. Dann wurde es aber schnell von der Hammondorgel verdrängt.
Zurück zu Ihrem eigentlichen Metier. Sie beschäftigen sich schon ein Leben lang mit Alter Musik. Gibt es für Sie in diesem Bereich noch etwas zu entdecken?
Koopman: Ein Autograf von Bach zu lesen, inspiriert mich jedes Mal aufs Neue, weil es so viele offenen Fragen gibt. Wir wissen, dass Bach mit 54 Jahren rasche Tempi bevorzugte und dass er mit seinen Füßen schneller spielen konnte als andere Organisten mit den Händen. Aber genaue Tempoangaben sind nicht überliefert. Außerdem fehlen in vielen seiner Kantaten einzelne Stimmen, die man rekonstruieren muss. Und wie haben diese Werke eigentlich auf Sächsisch geklungen? Welche Stimmung verwendete Bach? Es gibt immer noch viel zu recherchieren.
Mit dem von Ihnen gegründeten Amsterdam Baroque Orchestra & Choir haben sie zwischen 1994 und 2005 sämtliche Kantaten von Bach eingespielt. Seit Abschluss des Zyklus sind fast zwanzig Jahre vergangen. Wie blicken Sie heute auf Ihre damaligen Interpretationen?
Koopman: Die Chorsänger und Gesangssolisten habe ich damals an ihre Grenzen geführt, als ich mich entschieden habe, die ersten Weimarer Kantaten einen ganzen Ton höher einzuspielen. Auch die Blechbläser – die Trompeten und Hörner – haben sich inzwischen sehr verbessert. Ich finde es aber immer noch erstaunlich, wie viel wir damals erreicht haben. Wir hatten sehr viel Zeit zu proben. Heutzutage würde kein CD-Label mehr solche Aufnahmen bezahlen.
Worauf legen Sie beim Musizieren generell besonderen Wert? Was muss eine Interpretation bieten, damit der Funke überspringt?
Koopman: Die Musik soll in Bewegung, soll rhythmisch sein, es muss Abwechslung geben in Dynamik und Artikulation. Wenn Artikulationszeichen nicht in der Partitur stehen, sollte man trotzdem keine Angst haben zu artikulieren. In Bachs Kantaten und Passionen finde ich auch Textverständlichkeit sehr wichtig. Die Emotionen sollen überspringen. Bei einem fröhlichen Stück soll man Lust bekommen mitzutanzen, bei einem traurigen Text dürfen Tränen fließen. Also lautet die Devise: Sei kreativ!
Sie sind nicht nur mit Ihren Ensembles weltweit unterwegs, sondern auch als Organist und Cembalist und spielen auf sehr vielen verschiedenen Instrumenten. Empfinden Sie das als Bereicherung oder eine Notwendigkeit, mit der man sich abfinden muss?
Koopman: Ich genieße das Musizieren auf historischen Instrumenten. Sie haben eine Persönlichkeit und lassen sich nicht einfach vorschreiben, wie man sie spielt. Sie möchten auf eine bestimmte Art klingen, die man erspüren muss. Erst dann kann man seine eigene Freiheit und Kreativität finden. Wenn ich aber auf der Kopie eines Cembalos spiele, wünsche ich, dass das Instrument die heute üblichen Maße hat und der Oktavabstand der Tastatur nicht kleiner ist, als ich es gewohnt bin.
Sie haben auch dieses Jahr zum zweiten Mal den „Bach – We Are Family“-Chor im Rahmen des Leipziger Bachfests geleitet. Warum ist gerade Bachs Musik so sehr geeignet, Chorsängerinnen und -sänger aus der ganzen Welt zusammenzuführen?
Koopman: Von allen Komponisten taucht der Name Bach am häufigsten in Titeln von Klassikfestivals auf. Über ihn wurde auch am meisten geschrieben. Für den Chor „Bach – We Are Family“ haben wir eine Auswahl von Sängerinnen und Sängern aus 29 Chören aus der ganzen Welt getroffen, die Bachkantaten aus dem zweiten Jahrgang in ihrem Repertoire haben. In diesem Jahr habe ich das Schlusskonzert mit rund 110 Chormitgliedern geleitet, denen eine unglaubliche Liebe für Bachs Musik aus den Augen strahlte. Wir hatten ein schweres Programm: Bachs Motette „Jesu, meine Freude“ und seine Kantate „Ach Herr, mich armen Sünder“. Bei der ersten Probe dachte ich, wir schaffen es nie! Aber ich habe viel Geduld. Beim Musizieren soll es harmonisch zugehen. Aber am Ende klang für einen Laienchor doch alles erstaunlich sauber.
Bleiben Sie dem Chor erhalten?
Koopman: Ich werde ihn in zwei Jahren wohl wieder leiten, obwohl mein Kalender beim Bachfest dieses Jahr schon sehr voll war. Manche Tage habe ich neun Stunden dirigiert und dazu noch zwei Stunden Orgel gespielt. Das ist – wenn man achtzig wird – doch ein bisschen viel.
Ihre Frau Tini Mathot spielt ebenfalls Cembalo. Sie beide treten auch als Duo auf und haben zusammen ein eigenes Plattenlabel gegründet. Sind Sie sich in Fragen der Interpretation immer einig?
Koopman: Meine Frau hat als Aufnahmeleiterin fast alle meine Einspielungen begleitet. Sie hat früher bei mir studiert, und in diesem Jahr feiern wir unseren 50. Hochzeitstag. Wir können vielleicht besser zusammenspielen als viele andere in der Welt, weil wir die gleiche Sprache haben und das Gleiche schön finden.