Seit über fünfzig Jahren steht Thomas Quasthoff auf den Bühnen dieser Welt. Seine künstlerische Vielfalt könnte dabei größer kaum sein: Nachdem sich der Bariton bereits 2006 zunächst von der Opernbühne, 2012 schließlich gänzlich aus der Klassik zurückzog, macht er heute vor allem Jazz, Theater und Lesungen. Sein Plan ist wie immer klar: „Spätestens mit siebzig werde ich endgültig mit dem Singen aufhören“, verrät er im Gespräch mit großer Gelassenheit. Heute ist er 65 – bis dahin ist also noch etwas Zeit.
Herr Quasthoff, vor vielen Jahren sah ich im Internet ein Video, in dem Sie gemeinsam mit Daniel Barenboim Schuberts „Leiermann“ interpretieren. Das hat mir damals den Zugang zum Kunstlied eröffnet. Ich war danach fix und fertig.
Thomas Quasthoff: Dankeschön! Ein großes Kompliment in Zeiten des Schöngesangs.
Wie meinen Sie das?
Quasthoff: Ich habe kürzlich die „Winterreise“ eines jungen, gerade emporkommenden Tenors gehört. Und ich sage Ihnen: Das würde ich mir nicht kaufen – und zwar weil es wunderschön ist! Der singt toll, aber das hat mit der „Winterreise“ nichts zu tun. Da muss man auch mal ein Vibrato weglassen können. Genauso in der „Dichterliebe“. Das sind heilige Texte, die haben stellenweise genauso wenig mit Romantik zu tun wie ich mit Bergsteigen. Und wenn Sie einen „Erlkönig“ singen und die Leute nicht mit zitterndem Pappbecher auf Ihren Stühlen sitzen, dann haben Sie was verkehrt gemacht. Man muss doch die Menschen bewegen. Mit Farben, mit Wortverständlichkeit – sicherlich manchmal auch mit Schönheit, aber eben nur dann, wenn sie angebracht ist. Es gibt zu viel Schöngesang.
Woran liegt das?
Quasthoff: An den Hochschulen wird oft nur Schöngesang gelehrt. Das ist ein Problem. Aber dieses blöde Bachelor-Master-System erlaubt es einem zeitlich auch gar nicht, mit den Leuten am Ausdruck zu arbeiten. Die Studierenden kriegen nur noch das technische Rüstzeug mit, dann machen sie schon ihr Examen und das war’s. Aber ein Gesangsstudium lässt sich nicht genauso vereinheitlichen wie etwa ein Medizinstudium. Denn beim Gesang ist die menschliche Entwicklung mindestens so entscheidend wie die stimmliche.
Ihrer Berufung als Dozent sind Sie auch nach Ihrem Ausstieg aus der Klassikbranche treu geblieben.
Quasthoff: Ja, ich unterrichte wirklich sehr gerne. Es macht mir Freude, junge, begabte Sänger zu ermutigen und ihnen zu zeigen, was für ein unfassbar schöner Beruf das ist, den wir ausüben dürfen. Aber er erfordert eben auch sehr viel Fleiß, Verzicht und Arbeit. Ich bin da immer sehr ehrlich. Manchmal stehen auch Menschen vor mir, bei denen ich mir denke: Wer, bitte, hat euch denn suggeriert, dass ihr in diesem Beruf auch nur den Hauch einer Chance habt?
Fiel Ihnen Ihr Ausstieg aus der Klassik damals eigentlich schwer?
Quasthoff: Lassen Sie mich mal eine kleine Geschichte erzählen: Ich hatte gerade meinen zweiten Grammy gewonnen und sang in „Parsifal“ in Wien. Sängerisch stand ich sozusagen gerade voll im Saft. Dann starb meine Mutter und mein Bruder bekam plötzlich diese erschütternde Krebsdiagnose. Mein Bruder und ich pflegten eine wirklich außergewöhnlich enge Beziehung zueinander. Wir haben uns wirklich geliebt! Und als der Arzt sagte, dass er nur noch ein halbes Jahr leben wird, ist bei mir physiologisch was passiert. Ich bin am nächsten Morgen aufgewacht und meine Stimme war weg. Pathologisch wurde nichts diagnostiziert. Ich hatte keine Knoten, ich hatte keine Verdickung. Was soll ich sagen? Es waren einfach Herz und Seele kaputt. Ich musste zwei Jahre pausieren. Dann war die Frage: Kehre ich bei achtzig Prozent zurück? Das Publikum hätte es vielleicht gar nicht gemerkt, aber ich schon! Und da klassische Sänger immer mehrere Jahre im Voraus planen müssen, ich aber nichts planen konnte, war es dann nach einer Weile für mich die logische Konsequenz, die Notbremse zu ziehen und zu sagen: Das war’s. Das fiel mir dann auch nicht mehr schwer.
Wie haben Sie Ihre Stimme wiedergefunden?
Quasthoff: Dank einer berühmten Schauspielerin: Katharina Thalbach fragte mich irgendwann, ob ich mit ihr in „Was ihr wollt“ am Berliner Ensemble spielen wolle, ich müsse aber viel singen, hieß es. Ich habe gesagt, Katharina, das können wir vergessen! Ich habe seit zwei Jahren gar keinen Ton mehr gesungen. Und dann sagte sie mit ihrem herrlichen breiten Berliner Dialekt: „Na, dann setz dich halt hin und übe!“ Das gab mir plötzlich wieder eine Motivation, ich fing wieder an Übungen zu machen und merkte, dass es so nach und nach tatsächlich besser wurde. Dann habe ich vier Jahre lang am Berliner Ensemble „Was ihr wollt“ gemacht und habe viel gesungen, von alten englischen Songs bis hin zu Rap von Peter Fox. Und so kam ich dann auch wieder zum Jazz. Ich hatte nur überhaupt keine Lust mehr, in die Klassik zurückzukehren. Das war für mich irgendwie erledigt.
Warum dann aber Jazz?
Quasthoff: Jazz, das ist etwas anderes. Allein schon, weil man ein Mikrofon hat, ist es viel weniger anstrengend, und ich muss auch niemandem mehr irgendetwas beweisen. Als klassischer Musiker muss man das nämlich immer, da ist der Druck viel größer. Und mit zunehmendem Alter wird das nicht weniger, im Gegenteil. Aber ich bin der klassischen Welt ja auch nicht komplett abhandengekommen. Ich übernehme immer noch regelmäßig Sprechrollen, zum Beispiel in Schönbergs „Gurre-Liedern“.
Seit über fünfzig Jahren stehen Sie auf der Bühne, das erste Mal mit vierzehn. War es schon immer Ihr Wunsch, Sänger zu werden?
Quasthoff: Ganz ehrlich: Mit einer hundertprozentigen Körperbehinderung hat man vielleicht den Wunsch, ja. Aber es wurde von vielerlei Seiten suggeriert, dass das keine gute Idee sei. Das Singen hat leider auch heute noch viel mit Äußerlichkeit zu tun. Ich würde mich jetzt – um Gottes willen – nicht als „hässlich“ bezeichnen, aber sagen wir mal, ich bin anders. Und alles, was nicht der Norm entspricht, hat es schwer. Ich werde oft gefragt, ob ich nicht fürchterlich kämpfen musste. Nein, musste ich nicht. Die Ressentiments einem behinderten Menschen gegenüber kommen ja nicht von mir, sondern von anderen und werden sozusagen auf mich projiziert. Ich habe mich ja nicht auf die Bühne gestellt und gesagt, ach, Kinder, ich bin so ein ganz armes Würstchen, jetzt müsst ihr aber besonders doll applaudieren. Sondern ich bin auf die Bühne gegangen und habe einfach gesungen. Auch wenn die Leute vielleicht zunächst irritiert waren. Oder anders gesagt: Große Dirigenten, mit denen ich arbeiten durfte – ich rede von Persönlichkeiten wie Simon Rattle, Lorin Maazel, Riccardo Muti oder Daniel Barenboim –, laden einen nicht zum zweiten Mal ein, weil man sieben Finger oder kurze Beine hat, sondern weil ihnen die sängerische Leistung gefällt. Zubin Mehta hat mal zu mir gesagt: „Es gibt Menschen, die singen können und es gibt Menschen, die eine Stimme haben, die direkt ins Herz trifft. So einer bist du.“ Darüber habe ich mich natürlich sehr gefreut.
Ausstrahlung spielt doch sicher auch eine Rolle.
Quasthoff: Richtig, aber das kann man nicht lernen. Entweder man hat es oder man hat es nicht. Johan Botha zum Beispiel – er lebt leider nicht mehr – war ein unfassbarer Sänger, aber auf der Bühne wirkte er wie ein großer Medizinball. Er war wahrhaftig kein Bewegungswunder. Ich kann das beurteilen, ich habe mit ihm „Parsifal“ an der Wiener Staatsoper gespielt. Was ich damit sagen will: Ich habe wohl etwas mitbekommen, das die Menschen überzeugt hat. Natürlich habe ich an meiner Gesangsstimme viel und hart gearbeitet, aber es war von vornherein etwas da, das es mir leichter machte. Es gibt sicher andere Sängerinnen und Sänger, die nicht behindert sind, aber die viel härter arbeiten oder kämpfen mussten als ich.