Sie ist die Königin der Instrumente, aber nur wenige erliegen heute noch ihrem Charme. Sollte sie nicht lieber abdanken? Nein!, sagt Sebastian Heindl. Aber die Orgelszene braucht – wie der gesamte Klassikbetrieb – ein von Phantasie und Spontaneität geleitetes Update.
Die Orgel hat Sie schon als kleines Kind fasziniert. Erinnern Sie sich noch an die Geschichte in Spanien?
Sebastian Heindl: Selbst erinnern kann ich mich zwar nicht, aber meine Eltern haben diese Anekdote immer gerne erzählt. Ja, das war im Urlaub in Spanien. Wir haben eine Kirche besucht und ich war wohl völlig bestürzt, als ich mich umschaute. „Wo ist denn die Orgel?“, fragte ich enttäuscht. Eine Kirche ohne Orgel? Das konnte nicht sein!
Was zog Sie so magisch an?
Heindl: Die schiere Größe. Aber vor allem die tausendfachen Details. Ein Klavier hat ja viele Tasten, aber eine Orgel hat viel mehr. Nicht nur ein Manual, sondern gleich mehrere übereinander. Dazu die Registerzüge am Spieltisch mit den zahlreichen Knäufen und Hebeln. Und wenn der Organist zu spielen anfängt, beginnt die ganze Kirche zu beben. Das war wirklich umwerfend! Kinder reagieren darauf ja sehr emotional. Ich bemerke das heute als Erwachsener ganz oft, wenn Kinder zuhören. Man kann das vielleicht mit der Faszination vergleichen, die Dinosaurier auf den Nachwuchs ausüben.
Sie sind jetzt 25 Jahre alt und haben eine erstaunliche Karriere hingelegt. Seit März wirken Sie – neben Ihren vielen Konzertterminen – als Kantor an der Gedächtniskirche. Wie kam es dazu?
Heindl: Ausschlaggebend ist immer, dass der künftige Arbeitsgeber das Gefühl hat, dass es passt, auch vom Profil her. Und bei uns passte es ziemlich gut. Für jeden Musiker ist es ein Traum, an solch einem zentralen und international bekannten Ort tätig zu sein. Die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche steht ja mitten im Berliner Leben, man hat ein sehr durchmischtes Publikum und sehr viel „Laufkundschaft“. Es ist nicht so eine klassische Kirchgemeinde, wo man jeden Sonntag dieselben hundert Gesichter sieht. Man kann mit verschiedenen Veranstaltungsformaten ganz unterschiedliche Gruppen erreichen. Es ist eine Kirche, die sehr nah dran am urban lifestyle ist. Das Programm ist vielfältig, es gibt auch ein Jazz-Festival, verschiedene Projekte mit computergesteuerter Orgel, wo Algorithmen das Komponieren übernehmen. Es ist eine Stelle, bei der man auf Augenhöhe mit der Zeit ist und kreativ sein kann.
Die Orgel hat ja ein furchtbar angestaubtes Image. Wie wollen Sie da raus?
Heindl: Ganz einfach: das Risiko suchen. Ich mag Risiken. Ich finde es immer interessant, an die Grenzen zu gehen. Wir müssen uns fragen: Mit welchem Recht machen wir noch Musik, die über 200 Jahre alt ist? Wie müssen wir diese Musik in unsere heutige Zeit transportieren? Antwort: Zum Beispiel mit Improvisation und kreativem Umgang mit dem musikalischen Material. Mir ist es wichtig, eine breite Ausdruckspalette in alle Richtungen zu haben. Ich spiele Jazz-Bearbeitungen wie „I got Rhythm“ von George Gershwin oder gehe spontan auf Publikumswünsche ein. Das klingt vielleicht ein bisschen nach Wunschkonzert, aber es entwickelt sich eine schöne Dynamik. Der direkte Kontakt zum Publikum ist sowieso eines der wichtigsten Dinge, die wir angehen müssen.
Und was funktioniert gut?
Heindl: Ein auflockerndes Element kann eine Moderation sein. Da lasse ich mich gerne treiben und schaue, wie die Stimmung gerade ist. Eine Moderation zeigt den Musiker auch als Menschen von einer sehr nahbaren persönlichen Seite. Man äußert ein paar Gedanken und tritt in den Dialog mit dem Publikum. Und Humor hilft! Gerade wenn man Werke spielt, die nicht so leicht verdaulich sind, wie beispielsweise ein 27-minütiges Reger-Stück. Ich sage dann manchmal: „Halten Sie durch, es lohnt sich!“
Helfen neue Konzertformate? Oder wird jetzt alles zum Event? Das Marketing schlägt da ja gerne mal zu.
Heindl: Mit dem Begriff „Konzert“ habe ich kein Problem, der kann so bleiben. Das ist auch so ein Irrtum der Zeit, dass man nur den Namen ändern muss und dann ändert sich alles. Die Veranstaltung an sich muss sich ändern! Gerne auch radikal. Ich bin ein großer Freund von Friedrich Gulda, der es ab seinen mittleren Jahren komplett abgelehnt hat, Programmentwürfe an Veranstalter zu schicken. Er hat einfach gesagt: Ich spiele, was ich möchte. Punkt. Das konnte er sich mit seinem Namen und seinem Status natürlich erlauben. Woher will man wissen, was man in zwei Jahren spielen möchte? Natürlich bedeutet das ein Risiko, weil man darauf getrimmt ist, ein festes Programm zu planen und anzubieten, damit das Publikum seine Karten buchen kann. Führt das nicht auch zur Erstarrung?
Sie sprachen eben von einem kreativen Umgang mit dem musikalischen Material. In Ihren Konzerten spielen Sie oft eigene Bearbeitungen und Transkriptionen. Was ist die Herausforderung dabei?
Heindl: Das Wichtigste ist, erst einmal über die Notwendigkeit einer Transkription nachzudenken. Warum überhaupt eine Bearbeitung? Das hat einen ganz einfachen Grund: Die Orgel ist nicht so reich mit Kammermusikliteratur beschenkt wie das Klavier, das Streichquartett oder die Holzbläser. Viele Komponisten haben gar nichts für die Orgel verfasst. Beethoven, Wagner, Mahler – keine Orgel. Da mussten dann komponierende Organisten ran. Entsprechend einseitig fällt das Ergebnis aus. Darum ist es gerade für uns Organisten interessant, andere Werke zu bearbeiten, weil es so unfassbar viele Möglichkeiten an der Orgel gibt, ein Orchester zu imitieren. Alles, was das Orchester kann, kann die Orgel mit ihren verschiedenen Streicher- und Bläserregistern auch gut. Aber deshalb ist es wiederum schwierig, wenn die Orgel zusammen mit einem Orchester erklingt. Das ist dann alles nur doppelt, was zu einer Überladenheit führt.
Sie haben unter anderem Joseph Jongens „Symphonie Concertante“ op. 81 bearbeitet. Was war die Idee?
Heindl: Meine Bearbeitung ist eine Reduktion. Der originale Orgelpart in der Toccata bleibt bestehen, während im Orchesterpart die Holzbläser und Streicher wegfallen und in den bereits vorhandenen Blechbläserklang übergehen, teilweise auch in den Orgelklang. Dadurch wird das Stück transparenter, kammermusikalischer. Es ist immer noch virtuos und mit Wucht gestaltet, wirkt aber weniger überladen. Das ist die Kunst der Reduktion.
Was wird anders bei einer Transkription?
Heindl: Ich hatte mal einen Auftritt in Leipzig an der Musikhochschule mit Wagners „Meistersinger“-Ouvertüre, das Haus war voll mit Sängerinnen und Sängern. Nach dem Auftritt kam ein Gesangsprofessor auf mich zu und sagte, dass er das Stück noch nie so gehört habe. Er habe „zusätzliche“ Linien herausgehört, die ihm noch nie aufgefallen seien. Er fragte mich also, ob ich die hinzukomponiert hätte. Nein, sagte ich, ich habe eigentlich nur weggelassen. Das hat ihn verblüfft.
Gibt es etwas, was Sie selbst überrascht bei Ihrer Arbeit?
Heindl: Ja sicher! Solche Bearbeitungen eröffnen mir die Möglichkeit, in den Kompositionsprozess des Originals und den Handwerkskasten des Komponisten hineinzublicken. Man lernt, was der Komponist kann, aber auch – bei aller Verehrung – was er nicht kann. Man lernt seine Schwächen kennen, wenn man sich intensiv mit den Partituren auseinandersetzt. Man sieht, was durch eine zu fette Orchestrierung oft untergeht. Das soll nicht abwertend klingen. Komponisten sind auch nur Menschen.
Orgelspielen bedeutet auch Beinarbeit. Wie bleiben Sie fit?
Heindl: Ich bin passionierter Fahrradfahrer. Ich selbst habe kein Auto, alle Wege werden mit dem Fahrrad erledigt. Ich wandere sehr gerne, ich laufe gerne. Ich bin sowieso gerne zu Fuß, das bedeutet schon mal praktisches Training für die Beinarbeit als Organist. Fit bleibt man natürlich durchs Üben am Instrument. Exzessives Workout im Fitnessstudio ist mir eher fremd, das passt nicht zu mir und dazu fehlt mir auch die Zeit. Wichtig ist auch ausreichend Schlaf und genug Zeit für die Konzentration, also Kopfarbeit. Letztlich wird alles – Hände, Füße, Timing – aus der Kommandozentrale gesteuert.