„Das ist roter Ginseng – wahnsinnig gesund. Möchten Sie auch probieren?“ Wer kann da schon ablehnen, wenn einem die First Lady der Klarinette in ihrem wunderschönen alten Ziegelhaus in der Lübecker Altstadt einen ganz besonderen Tee anbietet. Mmmh, riecht ein wenig wie Brühe – „aber schmecken tut es furchtbar“, warnt Sabine Meyers Ehemann Reiner Wehle. Starten wir also lieber die erste Aufnahme.
Stamitz: Klarinettenkonzert Nr. 1 F-Dur – 3. Satz Rondeau
Sabine Meyer (Klarinette), Academy of St Martin in the Fields, Iona Brown (Leitung)
1995, EMI Classics
Meyer: Kenne ich, habe ich schon mal gespielt …
Wehle: … das ist das Stamitz-Konzert, nicht wahr? Und ich nehme mal an, es ist die Aufnahme mit Sabine Meyer…
M: … natürlich! Eine Verzierung war ja schon zu hören – und ich will nicht hoffen, dass ein anderer meine Verzierungen genauso spielt. Denn wir haben bei den Stamitz-Konzerten schon sehr viel verändert und hineingeschrieben: nicht nur die Kadenzen, sondern auch die ganzen Triller, Verzierungen und Umspielungen.
W: Es sind tolle Stücke geworden – schade nur, dass sie fast nie gespielt werden. Die großen Sinfonieorchester wollen keinen Stamitz spielen – und wenn Kammerorchester auf Tournee gehen, wollen sie auch das Mozart-Klarinettenkonzert spielen, damit der Saal voll wird
Mozart: Klarinettenkonzert KV 622 A-Dur – 2. Satz Adagio
Giora Feidman (Klarinette), Georgisches Kammerorchester Ingolstadt, Markus Poschner (Ltg.)
2003, Warner
M: Ob ich darauf komme … das ist Benny Goodman: Der spielt mit viel Vibrato und ganz vorsichtig …
W: … er hat ein bisschen Angst und Respekt – das könnte tatsächlich Benny Goodman sein, oder? Nein? Dann Eddie Daniels … obwohl der eigentlich nicht solch einen dünnen Ton hat.
M: … schon wieder falsch … das ist Giora! Hat der das auch aufgenommen? Juuhu, und ich habe es gehört …
W: … er hat schon eine sehr spezielle Art zu spielen: Es säuselt so ein bisschen, das klingt so halbseiden und dann auch wieder in einer Weise manieriert. Die Leute würden zerfließen, wenn sie das hören, doch für mich ist das nicht ganz seriös – aber trotzdem ist er ein super Musiker.
Copland: Klarinettenkonzert – Slowly and expressively – Cadenza
Martin Fröst (Klarinette), Australian Chamber Orchestra, Richard Tognetti (Leitung)
2011, BIS
M: Copland! Viel Ruhe – schön, wenn einer so ein leichtes Vibrato am Anfang macht: Das schwebt dann so schön, und der Klang hat einfach einen besonderen Schmelz.
W: Die Metronom-Zahl ist relativ langsam, aber viele spielen es schneller, weil das unglaublich lange Phrasen sind, und es ist ganz schwer, diese Phrasen so langsam zu spielen. Doch es muss so zeitlos klingen, denn die Taktarten und Phrasen ändern sich immer in der Länge – und das macht er hier ganz gut. Sabine ist es aber nicht: Sie hätte etwas mehr Schmelz da oben.
M: Ich spiele es auch schneller, damit solche Achtel dann nicht zu massiv werden, sondern es dieses Weiche behält. Ist das Sharon Kam?
W: Sharon klingt ein bisschen voller – es ist Martin Fröst, oder?
M: Das mag ich jetzt nicht, weil es so zickig und manieriert wirkt und spitz in der Höhe – das muss klanglich groß sein.
W: Und das sind die Stellen, wo manche eine jazzige Artikulation wählen – und da spielt er auch wieder sehr gerade. Aus der Kadenz könnte man mehr machen …
M: …das ist für mich einfach nur sehr langsam und sehr schnell, sehr leise und sehr laut – das ist es. Jetzt sollten wir es abstellen, jetzt reicht’s.
W: Kein schlechtes Wort über Kollegen.
Poulenc: Sonate B-Dur – 1. Satz Allegrotristamente
Sharon Kam (Klarinette), Itamar Golan (Klavier)
1997, Teldec/Warner
W: Poulenc-Sonate! Der Anfang ist ja unglaublich spröde und wahnsinnig zickig mit diesen hohen Tönen: Wenn einer nicht darauf achtet, kann das schrecklich sein – hier aber klingt das sehr gepflegt: Das finde ich gut. Allerdings ist es ein Allegro tristamente, und das müsste mit diesen Ostinati bedrohlicher klingen: Das darf kein lustiges Stück sein. Die Musik wird besser, wenn sie absolut cool gespielt wird und bedrohlicher klingt.
M: Solche Ritardandi stehen einfach nicht da: Er hat schon genau hingeschrieben, was er wollte. Da nimmt sich einer sehr viele Freiheiten …
W: … ich habe ja mal ein Jahr in Frankreich studiert, und da ging es nur um Genauigkeit: Artikulation, Phrasierung, Genauigkeit – keine Emotionen, hat mein Lehrer immer gesagt: Wir Deutschen würden viel zu viel Emotionen in die Musik legen. … Sharon Kam ist das also: Sie gestaltet gelegentlich sehr eigenmächtig – was manchmal total spannend sein kann, aber Poulenc müsste man sachlicher spielen, da wird das Stück besser.
Spohr: Klarinettenkonzert Nr. 1 c-Moll 3. Satz Rondo. Vivace
Andreas Ottensamer (Klarinette), Rotterdam Philharmonic Orchestra, Yannick Nézet-Séguin (Ltg.)
2012, DG
W: Erstes Spohr-Konzert, letzter Satz! Sehr stumpf, sehr dumpf … das ist der Andi Ottensamer! Das ist ein unheimlich lustiges Stück, ich mag den Satz sehr gerne …
M: … doch wenn man das dann so metronomisch und tonlich so gleichförmig spielt, dann ist das abtörnend.
W: Aber vielleicht liegt es auch daran, dass er immer auf Plastik-Blättern spielt – für mich klingt es jedenfalls nach Plastik. Es klingt alles gleich, es ist eine Farbe und sehr kontrolliert …
M: … aber eben sehr unkünstlerisch.
W: An dieser Stelle, da muss sich farblich etwas ändern, er müsste auch besser artikulieren – das klingt einfach pappig …
M: … und auch ein bisschen hohl: Der Klang hat keine Substanz, keine Qualität im Kern.
W: Das ist so die Tendenz heute: Es soll alles immer angenehm klingen – und da fehlen für mich einfach der Klangsinn und die Farben.
Cerha: Rhapsodie für Klarinette solo
Matthias Schorn (Klarinette)
2012, CAvi
W: Schöner voller Ton, der gefällt mir … ein etwas clowneskes Stück – vielleicht ein französisches? Sind das nur Solostücke auf dieser CD?
M: Brunner hat solch eine CD gemacht, nur mit Solostücken, aber das ist nicht Brunner. Das ist eine deutsche Klarinette, oder?
W: Ein lustiges Stück, das hat so etwas Vogelhaftes – sind das die „Vogelrufe“-Bagatellen von Jürg Baur? Nein? Dann sind wir draußen aus der Nummer, wir haben keine Ahnung, was das ist…. Ach, der Matthias Schorn …
M: … da hätten wir drauf kommen können…
W: … was bei ihm so toll ist: Er hat so unterschiedliche Ensembles. Und einen schönen, sehr substanzvollen und ausgeglichenen Ton.
Ponchielli: Paolo e Virginia für Klarinette, Violine und Orchester
Sharon Kam (Klarinette), Württembergisches Kammerorchester Heilbronn, Ruben Gazarian (Ltg.)
2013, Berlin Classics
M: Oh Gott, da kennen wir schon wieder etwas nicht.
W: Vielleicht kommt da ja jetzt gar keine Klarinette, sondern eine Trompete… da, hörst Du, ein klagendes Horn.
M: Haydn ist es nicht… ups, ein Doppelkonzert, Geige und Klarinette …
W: … das ist eine seltene Kombination. Das klingt so ein bisschen nach K.u.K.-Glanz und Wiener Charme … dazu muss man ein Glas Wein trinken.
M: Man schmilzt dahin … ein bisschen wie Unterhaltungsmusik, Schmankerl aus dem Prater …
W: … da könnte man richtig mitsingen … Ach, das ist auch Sharon? Ponchielli von ihrer Opern-Platte …
M: … das war ja witzig, dass wir damals zur gleichen Zeit beide diese Arien-Alben herausgebracht haben.
Klughardt: Quintett C-Dur op. 95 – 1. Satz Allegro non troppo
Quintette Aquilon
2012, Crystal
W: Kenne ich… das ist eines der Reicha-Quintette…
M: … die hast du ja Millionen-mal gespielt …
W: … nicht alle: Es sind ja 24 oder sogar 36 Stück. Reicha ist es nicht? Dann Klughardt – ein schönes Stück übrigens, das macht echt Laune zu spielen.
M: Rainer hatte ja lange Jahre das Quintett Chalumeau …
W: … ja, wir haben den ARD-Wettbewerb gewonnen und viel gespielt, aber nach 15 Jahren haben wir dann aufgehört. … Doch das Quintette Aquilon kennen wir nicht: Junge und attraktive Damen – das ist natürlich ganz was anderes als wir fünf Männer damals. Sehr schön und kultiviert spielen sie – wobei ich finde, bei dem Klughardt könnte etwas mehr Sound sein, da könnte wirklich die Sau rausgelassen werden: Da sind die mir viel zu zurückhaltend und brav.
Piazzolla: Moderato Tangabile
Giora Feidman (Klarinette), Südwestdeutsches Kammerorchester Potsdam, Vladislav Czarnecki (Ltg.)
2003, Warner
W: Ein Jazz-Konzert … ist das der Orlowsky? Wobei ich ihn nur kultivierter kenne: Hier wird der Ton ja richtig aufgeraut … ah, Tango … da muss er ja ganz schön herumquietschen.
M: Wow! Das macht Laune …
W: … und es ist ein guter Klarinettist – aber wer? Ach, das ist auch Giora …
M: … schon etwas älter – aber ein tolles Stück! Hier, an so einer Stelle hätte man darauf kommen können, dass es Giora ist: Wie er die Töne so zieht – klasse! Das könnten wir nie auch nur annähernd so spielen: So viele Blastechniken, wie die Klezmer-Klarinettisten haben, wie sie Töne anspielen, hineingehen und ziehen, dazu auch noch Geräuschanteile …
W: … das ist natürlich auch materialabhängig: Ich nehme an, dass er sehr viel leichtere Blätter spielt, da geht das Ziehen natürlich sehr viel einfacher.
Brahms: Die Mainacht op. 43 Nr. 2
Martin Fröst (Klarinette), Roland Pöntinen (Klavier), Torleif Thedéen (Cello), Janine Jansen (Violine) u. a.
2013, BIS
W: Sehr viel Vibrato, sehr profiliert und schön gefühlvoll – das könnte wieder Giora sein.
M: … ist er aber nicht. Eine Liedbearbeitung … das könnte Brahms sein. Ach, von Martin Fröst – wobei ich dieses Vibrato zu süßlich finde: Brahms hat mehr diese klangliche Strenge – auch wenn es sehr schön ist, wie er spielt.
W: Er ist zur Zeit neben Sabine der führende Klarinettist und macht eine Riesen-Karriere. Natürlich hat man in manchen Dingen eine andere Auffassung als er: Die modernen Sachen, die er macht, finde ich teilweise keine guten, sondern lediglich effektvolle Stücke, aber da ist er natürlich in seinem Element, denn er ist eben auch ein Showmensch.
Goldschmidt: Klarinettenkonzert – 2. Satz Nocturne – Andante tranquilo
Sabine Meyer (Klarinette), Orchester der Komischen Oper Berlin, Yakov Kreizberg (Leitung)
1997, Decca
M: Das kenne ich – ich glaube, das habe ich auch schon gespielt … ich weiß, was es ist, aber ich kann es nicht sagen.
W: Das ist gemogelt: Ich weiß auch, was es ist, aber ich kann es auch nicht sagen.
M: Moment, das ist doch … ich komm‘ auch noch drauf …
W: … und Du hast es schon gespielt? Was Du alles gespielt hast …
M: … das bin ich doch – nein… das ist wirklich peinlich …
W: … für mich nicht, weil ich das ja nie gespielt habe … aber Du bist es auf keinen Fall. Interessantes Stück, mit dem Orchester zusammen, schöne Farben – aber das hast Du nie gespielt.
M: Ich kenne es aber trotzdem … das ist jetzt superpeinlich … doch: Goldschmidt! Ich wusste es doch – und das bin ich, oder? Na klar …
W: … und das hast Du sogar auf CD aufgenommen? Guck mal an, das ist ja ein Ding …
M: Ich wusste doch, dass ich es kenne – wenn ich das jetzt nicht herausgefunden hätte, dann hätte ich heute eine schlaflose Nacht gehabt und mich sehr geärgert.