Wer René Jacobs allein auf die Alte Musik festlegen wollte, um die er sich als Spezialist der Historischen Aufführungspraxis im großen Maße verdient gemacht hat, greift zu kurz. In den letzten Jahren ist der Dirigent immer wieder zu Mozart zurückgekehrt. Der CD-Zyklus mit Opern ist zwar abgeschlossen, aber Mozarts Musik beschäftigt ihn weiter. Außerdem streckt Jacobs seinen Taktstock nun auch in Richtung Verdi aus …
Nach fast zwei Jahrzehnten ist das Projekt mit der Einspielung aller Mozart-Opern inzwischen abgeschlossen. Wie hat sich Ihre Sicht auf Mozart geändert?
René Jacobs: Ich habe in dieser Zeit sehr viel gelernt. Vor allem ist mir immer wieder aufgefallen, wie sinfonisch seine Opern sind. Ich habe schon nach den ersten Aufnahmen gemerkt, dass es gut wäre, wenn ich auch einige der Sinfonien aufführen würde. Dabei ist mir dann aufgefallen, wie einzigartig Mozart die musikalische Form manipuliert, meistens die so genannte Sonatensatzform.
Inwiefern?
Jacobs: Indem er beispielsweise der Reprise, also der Wiederkehr der ersten Themen, einen ganz eigenen, neuen dramaturgischen Sinn gibt. Ein solcher Umgang mit dem Sonatensatz findet sich dann auch in seinen Opern, beispielsweise beim Sextett in „Figaro“, wenn Figaro seine Eltern entdeckt und die Reprise in einem ganz zentralen Moment einsetzt. Solche Dinge habe ich im Laufe der Jahre immer intensiver analysiert – mit immer größerer Freude.
Viele Instrumentalisten entdecken in Mozarts Sinfonien und Konzerten opernhafte Züge, und nun kommt der Opern-Dirigent Jacobs und zeigt den umgekehrten Weg auf …
Jacobs: Weil für mich selbstverständlich ist, was die Instrumentalisten behaupten. Nehmen Sie die „Jupiter“-Sinfonie. Sie enthält im ersten Satz drei Themen anstelle der sonst üblichen zwei. Diese drei Themen sind sehr unterschiedlich. Ein Musikologe hat herausgefunden, dass sie den drei unterschiedlichen Rollen in einer Oper entsprechen. Das erste Thema ist ein heroisches Thema, das dritte entspricht einer Buffopartie; dabei handelt es sich um ein Selbstzitat aus einer komisch-heiteren Konzertarie für Bass; das zweite Thema wiederum hat den Charakter einer Mezzopartie. Dieses Schema entspricht ungefähr den Rollenaufteilungen in „Così fan tutte“.
Und beim Finale? Auch ein Bezug Oper?
Jacobs: Das Fugatoprinzip, wie Mozart es im Finale anwendet, findet sich etwa in der „Zauberflöte“. Beide Werke sehe ich in unmittelbarer Nähe zur Freimaurerthematik. Ich werde nächstes Jahr eine Tournee mit Orchester und zwei Sängern machen, Sopran und Bariton, mit Arien aus späten Mozart-Opern und einzelnen Sätzen aus den Sinfonien. Dieses Programm zusammenzustellen kostet mich mehr Mühe als zunächst gedacht. Ich möchte dabei die Verbindungen so eng knüpfen, dass die Zuhörer sie leichter erkennen können.
Ist Mozart für Sie der spannendste Geschichtenerzähler der Musikgeschichte?
Jacobs: Von den Komponisten, die ich kenne, sicherlich. Allerdings kenne ich nicht die gesamte Musikgeschichte und nicht alle Opern … Über Mozart lerne ich etliches, wenn ich Werke seiner Zeitgenossen aufführe. Haydn ist einer der ganz Großen.
Aber immer wieder unterschätzt …
Jacobs: Ja, aber er ist eine Liga mit Mozart. Daher kann ich aus Haydns großen Werken weniger lernen als von den sogenannten kleineren Komponisten der Mozart-Zeit. Von Haydn kann ich nicht lernen, wie groß Mozart war! Das geht nur bei anderen Zeitgenossen.
Warum hat Haydn es denn heute noch so schwer?
Jacobs: Diese Frage stelle ich mir selber oft. Ich könnte aber auch Fragen: Warum hat Telemann es so schwer gegenüber Bach? Ich glaube, dass dabei bestimmte Klischees wie das Bild von „Papa Haydn“ eine große, verheerende Rolle spielen. Was damals als Respekt-Bezeichnung gegenüber seiner Vater-Funktion gemeint war, hat sich heute in eine fixe Idee von Gemütlichkeit gewandelt. Telemann wiederum gilt heute als Vielschreiber und deswegen als weniger interessant. Dabei sind gerade seine Opern viel respektabler als ihr Ruf, sie werden viel zu selten gespielt – was für viele Barockopern gilt. Daran hat übrigens Richard Wagner Schuld.
Noch einmal kurz zurück zu den vermeintlich kleinen Komponisten. Was genau haben Sie gelernt?
Jacobs: Bei Mozart dominiert die Musik das Drama. Das hat man zum Beispiel nicht bei Paisiello und nicht bei Salieri. Ab Oktober dirigiere ich Salieris „Falstaff“ in Wien. Es ist ein herrliches Stück, ein gutes Libretto, sehr bühnenwirksam, gut komponiert, aber da wird man nicht eine Arie wie die der Konstanze in „Entführung“ finden. Bei Salieri ist die Musik Dienerin des Dramas, wie schon bei Monteverdi. Bei Mozart aber ist es umgekehrt.
Hätten Sie manchmal gern ein zweites Leben, um mehr Instrumentalmusik aufzuführen?
Jacobs: Ich hätte auch gerne noch ein drittes Leben, auch um komplett andere Wege zu gehen … Mehr Instrumentalmusik, mehr Musik aus dem 19. Jahrhundert. Wobei ich nicht sicher bin, ob ein zweites Leben besser sein würde. Denn ich bin sehr froh, wie mein bisheriges Leben verlaufen ist – mit meinen Anfängen als Sänger und meinem Stimmfach als Countertenor und dem Fokus auf die so genannte Alte Musik. Ich habe damals begonnen, mich für die Musik der Renaissance, des 16. und 17. Jahrhunderts zu interessieren, weil ich geeignetes Repertoire suchte.
Welcher Opernkomponist des 19. Jahrhunderts, den Sie bisher noch nicht aufgeführt haben, würde Sie dann am ehesten reizen?
Jacobs: Verdi!
Möchten Sie nicht, oder fragen die Theater nicht an?
Jacobs: Bei einer Anfrage würde ich sehr genau hinhören und gut überlegen. Mich reizt es, Orchester, die auf Originalinstrumenten spielen, auch bei Musik einzusetzen, die später entstanden ist. Das aber ist letztlich eine Kostenfrage, denn diese Produktionen sind sehr teuer. Bei einem Festival ist so etwas eher möglich als im normalen Betrieb eines Opernhauses.
Lassen Sie mich raten: Am ehesten würde Sie bei Verdi der „Falstaff“ reizen?
Jacobs: Ich mache den Wiener Salieri-Falstaff durchaus, weil ich ihn als Vorbereitung für einen möglichen späteren Verdi-„Falstaff“ im Hinterkopf habe, ja! Meine Vorliebe für diese Oper hängt natürlich auch damit zusammen, dass Verdi die ganze frühere Musik mit einbezieht. Außerdem bin ich als Operndirigent sehr stark an der Librettologie interessiert. Gerade das „Falstaff“-Libretto ist ungemein komplex. Das ist herausragend virtuos und dicht.
Warum gibt es so viele Dirigenten, die einen Sinn für die Qualität von Libretti mitbringen?
Jacobs: Wir sollten nicht vergessen, dass alle großen Opernkomponisten auch literarisch sehr neugierig waren. In Mozarts Bücherschrank fanden sich zum Beispiel alle Stücke von Molière in deutscher Übersetzung. Oder Verdi mit seiner Schiller- und Shakespeare-Liebe, dazu Hugo und andere. Ich bin meinen Eltern bis heute sehr dankbar dafür, dass ich nicht nur Musik studieren, sondern auch ein „echtes“ Diplom machen sollte. Für dieses „echte“ Diplom habe ich an der Universität von Gent Altphilologie studiert, und dabei haben wir gelernt, all die antiken Dramen auch in ihrer formalen Schönheit und mit ihrer Versmetrik zu erfassen – dieses Interesse habe ich mir bis heute bewahrt. Nehmen Sie etwa Glucks Oper „Alceste“, die ich bei der Ruhrtriennale dirigiert habe. Sie geht auf Euripides zurück, und Calzabigi hat aus der Vorlage ein famoses Libretto geschaffen.
Inwieweit bestimmt der Blick aufs Libretto Ihre heutige Probenarbeit?
Jacobs: Gerade wenn ich mit Sängern zum ersten Mal zusammenarbeite, weise ich vor allem bei den Rezitativen sehr oft darauf hin, wie sie in ihrem Silbenaufbau und -ablauf gebaut sind. Wenn die Sänger das dann hören, sind die meisten erst einmal perplex. Ist das wichtig? Ja, besonders die kleinen Pausen. Sie bestimmen die poetische Schönheit der Texte. Wenn man darüber hinweg singt, geht der dramaturgische Sinn verloren. Der Begriff „recitativo secco“ kommt leider nicht von ungefähr – es wird oft als trocken empfunden, als notwendiges Bindeglied zwischen Arien, das so schnell wie möglich abgehandelt wird.
Bei dieser Vorliebe für gute Textbücher könnten wir Sie eines Tages noch als Strauss-Dirigent erleben …
Jacobs: Hofmannsthal hat großartige Textbücher geschrieben. Seine Zusammenarbeit mit Strauss ist ebenso hochrangig einzustufen wie die zwischen Da Ponte und Mozart bzw. Calzabigi und Gluck.