Schon seit 18 Jahren lebt Saleem Ashkar in Berlin, doch die Verbindungen in seine Geburtsstadt Nazareth hält der 43-jährige Pianist konstant aufrecht. Gemeinsam mit Eltern und seinem Bruder hat er das dortige Konservatorium aufgebaut, aus dem auch das Galilee Chamber Orchestra hervorging, welches er regelmäßig dirigiert.
Sie sind in Nazareth geboren, wo Sie auch Ihre Kindheit verbrachten. Mit welcher Musik sind Sie aufgewachsen?
Saleem Ashkar: Mit arabischer Musik. Ich habe als Kind folkloristische arabische Musik gehört, zu der ich auch heute noch einen Bezug habe. Wenn ich bestimmte Melodien höre, berührt mich das zutiefst. Ich habe aber auch sehr früh die klassische Musik für mich entdeckt.
Durch Aufnahmen?
Ashkar: Ja, mein Vater brachte irgendwelche Schallplatten mit, Klaviermusik von Chopin, Beethovens fünftes Klavierkonzert. Ich erinnere mich ganz klar an diesen Moment, das war wie ein elektrischer Schlag. Ich wusste sofort, dass ich diese Musik unbedingt selbst spielen will!
Stimmt es, dass Ihr Vater ein Auto gegen ein Klavier eingetauscht hat?
Ashkar: Ja, er hatte ein altes Auto und ein Arbeitskollege ein altes Klavier. Beide waren so alt und schrottig, dass sie nicht verkäuflich waren, also haben sie einfach getauscht. Der Zugang zur klassischen Musik war aber noch sehr beschränkt für mich. In meiner Schule war ich der Einzige, der Klavier spielte, es gab auch keine Musikschule. Die anderen Kinder fragten, was ich da mache …
Doch schon als Teenager spielten Sie auf großer Bühne.
Ashkar: Ja, ich habe in Israel verschiedene Klavierwettbewerbe gewonnen und mich so langsam hochgearbeitet. Bei einem der Wettbewerbe bestand der erste Preis darin, dass man Zubin Mehta vorspielen durfte. Ich habe ihm vorgespielt – und zwei Wochen später war ich engagiert als Solist für Tschaikowskys erstes Klavierkonzert, mit siebzehn. Das ist der Traum von jedem jungen Pianisten und war für mich der klassische Durchbruch.
Vor drei Jahren sind Sie mit einem Beethoven-Zyklus nach Israel zurückgekehrt, haben Konzerte u. a. in Nazareth und Jerusalem gespielt. Wie haben Sie diese Konzerte erlebt?
Ashkar: Ich habe den Zyklus ja auch in anderen Städten wie Prag oder Berlin gespielt, wo es im Grunde nur um die Musik geht. In Israel hingegen kommt die Musik in Berührung mit politischen und existenziellen Fragen. In Jerusalem habe ich in einer alten Kirche gespielt, wo sonst nicht musiziert wird. Als wir den Flügel in die Altstadt geschleppt haben, war das ein Gänsehaut-Moment. Wobei ich auch gesehen habe, dass ein Konzert in Jerusalem eher symbolischen Charakter hat. Mehr erreicht habe ich, glaube ich, in dem Dorf Baqa, wo diese Musik ganz neu war, wo ich sehen konnte, wie sie auf die Menschen wirkt, wie sie dadurch angeregt wurden, zu diskutieren.
Warum hatten Sie sich bei diesen Konzerten für ein Beethoven-Programm entschieden?
Ashkar: Ich empfinde seine Musik als universell, sie hat eine emotionale, philosophische Bedeutung, die über die Zeit, in der sie geschrieben wurde, weit hinausgeht. Beethovens Stimme kann, wie es bei keinem anderen Komponisten der Fall ist, für uns als Menschen sprechen. Man hört in seiner Musik den Kampf mit der Materie. Das ist ein sehr menschlicher Prozess, den er aber zu transformieren weiß in eine übermenschliche Schönheit und Tiefe. Diese Verbindung fasziniert mich, dass es menschlich und göttlich zugleich klingt. Für mich ist seine Musik ein Blick auf die Menschheit von ganz oben und von ganz innen.
Sie haben über Ihre Konzerttätigkeit hinaus in Nazareth auch musikalische Aufbauarbeit geleistet.
Ashkar: Ja, das begann vor fünfzehn Jahren, sozusagen in unserem Wohnzimmer als Familienprojekt mit meinem Bruder und meinen Eltern. Entstanden ist daraus unter anderem das erste Konservatorium in Nazareth. Unser Wunsch war es, Kindern in der Stadt den Zugang zu klassischer Musik zu ermöglichen. Denn durch das Musizieren gewinnt man eine Stimme, ein Gefühl von Zugehörigkeit zur Weltkultur. Man gibt den jungen Menschen auch das Gefühl, dass sie gesehen werden.
Jüdische und arabische Kinder musizieren dort gemeinsam. Ein politisches Projekt?
Ashkar: Nein. Es ist auch kein symbolischer Akt nach dem Motto „Wie schön die Welt sein könnte“, sondern das ist unser Leben, unser Alltag von heute auf morgen. Die Musiker wohnen dort, und es ist die Aufgabe, dort kontinuierlich etwas zu kreieren, für das dortige Publikum und die dortige Kulturlandschaft. Das funktioniert auch: Wenn ich heute in Nazareth auf der Straße bin, sehe ich oft Kinder mit Geige auf dem Rücken – herrlich! Früher kamen viele Menschen von außerhalb nur nach Nazareth, um billig einzukaufen oder um guten Hummus zu essen. Heute kommen sie auch, um klassische Musik zu hören.
Zum Beispiel vom Galilee Chamber Orchestra, mit dem Sie im Sommer mehrere Konzerte in Deutschland geben.
Ashkar: In diesem Orchester sind unsere beste Studenten vereint, und für mich ist es ein Anknüpfungspunkt, wie ich mit meiner Heimat verbunden bleiben kann. Ich wohne ja seit achtzehn Jahren in Berlin und musiziere vor allem in Europa, Asien, Australien und Amerika. Jetzt fahre ich drei bis vier Mal im Jahr nach Nazareth für Projekte, Konzerte und Workshops mit dem Orchester.
Der libanesische Geiger Ara Malikian sagte einmal: „Wer einen Zugang zu Musik und eine Empfindsamkeit für Kunst hat, kommt nicht auf den Gedanken, Menschen zu töten.“ Würden Sie dem zustimmen?
Ashkar: Das würde ich so pauschal nicht zu behaupten wagen: Historisch betrachtet lässt sich ja feststellen, dass Musik eine enorme Kraft hat.
Auch eine zerstörerische Kraft?
Ashkar: Musik kann auch benutzt werden, um Kriege zu führen. Es gibt Militärmusik, Musik um Menschen anzustacheln, es gibt faschistoide Musik … Und es wurde schon großartige Musik benutzt, um zu beweisen, dass eine Rasse besser als eine andere ist. Ich könnte nicht sagen, dass Musik per se eine Qualität hat, die zu Frieden neigt, es hängt immer vom Kontext ab.
Das Musizieren von Beethoven allein hält also einen Menschen noch nicht ab von Gewalt und Grausamkeit?
Ashkar: Der Mensch ist ein komplexes Tier: Er ist fähig, Schönheit zu genießen, zu verstehen und zu lieben, aber er kann sich auch sehr schnell von seiner hässlichen Seite zeigen. Da hilft die Musik nicht automatisch.
In einer Video-Dokumentation Ihrer Israel-Konzerte ist auch ein Passant zu sehen, der es ablehnt, in Ihr Konzert zu kommen, mit der Begründung: „Musik ist ein Handel mit dem Teufel.“
Ashkar: Diese Haltung ist theologisch sehr umstritten, auch innerhalb des Islam. Es geht da um die Frage: Ist Musik ein Eskapismus? Eine Droge? Ist sie ein Mittel, in uns selbst zu schauen? Ist Musik, metaphorisch gesehen, ein Weg zum Teufel oder ein Weg zu Gott? Der Umgang mit Musik ist aber keine Frage, die nur den Islam beschäftigt.
Sondern?
Ashkar: Auch das Christentum hat das beschäftigt: Welche Musik ist in der Kirche erlaubt? Welche Musik führt zu Religiosität und Spiritualität, welche Musik ist „Teufelsmusik“? Dass Musik uns verführen kann, hat jede Kultur und Religion erkannt. Ich finde diese Diskussion interessant, weil sich dadurch zeigt, dass Musik all diese Kräfte hat: Sie kann philosophisch sein, sie kann uns zu unserem inneren Ich bringen, sie kann eine Droge sein, uns zum Vergessen verleiten oder zum Instinktiven. Wobei ich persönlich keine Angst vor diesen Kräften der Musik habe. Im Gegenteil, ich sage: Danke, mehr davon! Ich möchte all diese Facetten von Musik erleben.
Pianist Saleem Ashkar über die Musik Beethovens: