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Pianist Menahem Pressler im Interview

„Sechs Stunden am Stück üben geht nicht mehr“

Pianist Menahem Pressler über Debussy, echte Empfindung in der Musik und seine Heimatstadt Magdeburg

vonChristian Schmidt,

Mehr als sieben Jahrzehnte steht Pianist Menahem Pressler bereits auf der Bühne. Um zu rekapitulieren, mit wem er in seinem langen Künstlerleben schon aufgetreten ist, benötigt er sein „Sweetheart“ Annabelle Weidenfeld. Aber um sich zu erinnern, wie seine großen Partien funktionieren, muss er nur sein eigenes Gedächtnis bemühen. Pressler – charmant, besonnen, ohne falsche Bescheidenheit, aber immer seinem Schicksal dankbar – kennt abseits des unglaublich anstrengenden Reisealltags kein Hindernis.

Was steht da auf Ihrem Klavier, was üben Sie?

Menahem Pressler: Obwohl ich sehr viel Kammermusik mit Streichern gemacht habe, musste ich jetzt zum ersten Mal wieder ein neues Stück lernen: Das Streichquintett von César Franck habe ich nie gespielt, ich werde es jetzt auch mit dem Schumann Quartett aufnehmen. Es ist ganz wunderbar. Franck schreibt alles enharmonisch, man muss lesen wie verrückt. Zwar lese ich gut, aber hier musst du sehr aufpassen, dass du nicht den ganzen Akkord wegen einer einzigen Note verlierst.

Menahem Pressler
Menahem Pressler © Sasha Gusov

Auf Ihrer jüngsten Platte „Clair de lune“ versammeln Sie viel französische Klaviermusik, unter anderem dieses Paradestück von Claude Debussy, dessen 100. Todestag 2018 begangen wird. Was macht diese Musik groß?

Pressler: Die Empfindsamkeit. Das Originelle. Die Erwartung, dass Leute reagieren. Debussy will nicht mal den Pianisten beeinflussen, was er denken soll. Das, was du findest, liegt an dir.

„Clair de lune“ war Ihr allererstes Stück von Debussy. Findet man nach so vielen Jahren noch neue Aspekte?

Pressler: Neu? Weiß ich nicht. Wieder neu erlebt: ja! Was die Leute hören, ist ganz frisch empfunden, und sie können es nachvollziehen. Das ist immer mein Anspruch gewesen. Ich spezia­lisiere mich nicht auf die Franzosen. Denn ich liebe Schumann, Beethoven und Grieg ebenso. Zur gleichen Zeit mache ich alle Mozartsonaten. Ich könnte schlicht sagen: Es ist Musik! Spiele ich Beethoven, bin ich ganz auf seine Philosophie eingestellt, auf seine rhythmische Strenge. Dieser Mann, der nicht hören konnte, schrieb die größte Musik, die man sich vorstellen kann. Sein Ideal war Mozart, er zitiert ihn immer wieder. Schubert hat sich in der Nähe von Beethoven begraben lassen. Es ist wunderbar zu sehen, wie die Gewaltigen aufeinander eingehen konnten und wollten, das ist etwas ganz Besonderes.

Wie halten Sie es mit den Zeitgenossen?

Pressler: Da ich bei Edward Steuermann studierte, spiele ich viel Schönberg und Webern.

Die Zwölftonmusik hat auch schon hundert Jahre auf dem Buckel.

Pressler: Nein, so alt ist die schon? Ja, fast, Sie haben Recht! Ich kann mich nicht an aktuell geschriebene Stücke entsinnen. Ich liebe nicht die Musik, die langsam auf einem Ton weitergeht. Zur Minimal Music habe ich keine Beziehung, obwohl ich Schüler habe, die glücklich sind, das zu spielen.

Sie sitzen seit 72 Jahren auf der Bühne!

Pressler: Das kann sein. Ein Kollege von Ihnen hat mich kürzlich gefragt, wie sich ein Pianist im biblischen Alter fühlt. Eigentlich eine unhöfliche Frage, aber dann habe ich geantwortet, dass ich mich, wenn ich spiele, nie älter als fünfzig fühle. Wenn ich unterrichte, nie älter als vierzig. Aber wenn ich die Treppen raufgehe, dann spüre ich mein Alter.

Menahem Pressler
Menahem Pressler © Sasha Gusov

Ihre Liebe für Musik existierte von Anfang an.

Pressler: Ich war immer hungrig zu musizieren und wollte durch die Musik und mit der Musik etwas sagen. Und das ist mir auch wirklich mein Leben lang gelungen. Ohne mich selbst loben zu wollen: Ich hatte immer etwas empfunden, was für die Leute wichtig schien. Mir war es enorm wichtig, die Musik zum Klingen zu bringen. Ohne diesen Anspruch sollte man nicht auftreten.

Verzweifeln Sie, wenn das Publikum Sie vielleicht manchmal nicht versteht?

Pressler: Nein. Wer zu mir kommt, hat ein gewisses Verlangen. Das Publikum erwartet von mir das, was ich ihm bieten kann. Und ich habe zum Glück ein sehr großes Publikum, das über die ganze Welt verstreut ist. Selbst in Japan füllen wir mit unserer Kammermusik Säle mit 2.000 Besuchern. In den nächsten paar Wochen habe ich 14 Auftritte, meistens in Deutschland. Seltsamer- und glücklicherweise habe ich Einladungen aus der ganzen Welt. Annabelle sucht aus, welche Konzerte die richtigen sind.

Sie sind 94 Jahre alt. Zeitverschiebung, Flugzeuge, verpasste Anschlüsse – wie schaffen Sie das?

Pressler: Es ist enorm anstrengend. Flughäfen sind für mich etwas Grausames, Kaltes, Grauenhaftes. In diesen Momenten spürt man, wie abhängig man ist von Menschen, die einem helfen.

Jedes Jahr spielen Sie auch einmal in Magdeburg, Ihrer Heimatstadt, deren Ehrenbürger Sie seit 2009 sind. Wenn Sie an Magdeburg denken, was kommt Ihnen in den Sinn?

Pressler: Ich hatte einen entzückenden Lehrer, der Organist an einer kleinen Kirche war. Er kam mich unterrichten, obwohl das bei einem jüdischen Kind verboten war. Er unterrichtete mit viel Zuneigung. Ich liebe ihn noch heute und sehe ihn noch vor mir stehen. Er war wunderbar zu mir.

Bis zur Emigration.

Pressler: Wir wussten noch nicht, wohin wir gehen sollten, weil wir kein Visum hatten. So verschlug es uns nach Triest in der Hoffnung, nach Palästina zu kommen. Oder nach Shanghai, dafür brauchte man kein Visum. Die Schiffskarten waren auf Jahre hinaus ausverkauft. So musste man warten, dass jemand, der eine Karte hatte, nicht mehr fährt. Uns ist es dann doch gelungen, ein Zertifikat nach Palästina zu bekommen. An dem Tag, da wir Palästina erreichten, trat Italien in den Krieg ein – unser Schiff fuhr nicht mehr zurück und wurde konfisziert. Für mich war die Botschaft klar: Wir sollten leben!

Es gibt ein schönes Kinderbild im Booklet mit Ihren Geschwistern Selma und Leo.

Pressler: Ich lese die Zeitung, mein Bruder guckt mich an, meine Schwester sitzt hinter uns. Wie Gott will – beide leben! Selma in Israel, Leo in New York.

Könnten Sie die Straße, in der das Bild aufgenommen wurde, heute noch finden?

Pressler: Ich glaube nicht, denn Magdeburg wurde stark bombardiert.

Was betrachten Sie als Ihre Heimat?

Pressler: Die richtige Heimat muss Israel sein. Dort wurde mein Leben gerettet. Dennoch habe ich nicht vergessen, dass ich aus Deutschland komme. Dort wurde ich erzogen, dort habe ich gelernt zu leben. Später habe ich in Israel meine Frau gefunden. Sie ließ mich in Deutschland nur dann spielen, wenn ich das dort verdiente Geld in Israel spenden würde.

Wie beurteilen Sie den Neofaschismus in Deutschland?

Pressler: Ich hätte das nicht für möglich gehalten – nach dem, was alles geschehen ist.

Wie lange möchten Sie noch etwas zu sagen haben am Klavier?

Pressler: Das habe ich nicht zu entscheiden. Ich bekomme Nachricht von Gott. Bis er das Herz zum Stillstand kommen lässt, möchte ich musizieren. Für mich ist es ein Verlangen, die Musik zum Leben zu bringen und mit dem Publikum zu teilen. Das ist etwas, das mich sehr glücklich macht. Und dass meine Hände noch stark genug sind, ist ein Wunder! Bis Sie kamen, habe ich geübt.

Dann gehe ich jetzt, und Sie üben weiter.

Pressler: Ich muss es immer wieder unterbrechen. Sechs Stunden am Stück gehen nicht mehr. Aber ich arbeite gern.

Menahem Pressler spielt „Clair de lune“ von Claude Debussy:

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