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Interview Philippe Herreweghe

„Es gibt auch viel Quatsch“

Der Dirigent Philippe Herreweghe blickt auf vierzig Jahre als Pionier der historischen Aufführungspraxis zurück.

vonChristian Schmidt,

Als Philippe Herreweghe 1970 das Collegium Vocale im belgischen Gent gründete, war er noch Student der Medizin: Der damals 23-Jährige hatte entschieden, nach seinen musikalischen Studien etwas Richtiges werden zu wollen. Dass Herreweghe neben den Pionieren Gustav Leonhardt und Ton Koopman damals den Grundstein für den beispiellosen Triumph der historischen Aufführungspraxis mit völlig anderer Phrasierung, Artikulation, Dynamik und dem Einsatz historischer oder wenigstens authentischer Instrumente legen sollte, war kaum abzusehen. Im Interview erinnert sich der heute 72-Jährige an eine seit fast vier Jahrzehnten andauernde Erfolgsgeschichte, die mit Renaissance- und Barockmusik begann. Nach und nach arbeitete sich Herreweghe bis zum zeitgenössischen Repertoire vor. Heute zählt Anton Bruckner zu seinen Lieblingskomponisten.

Sie dirigieren gerade in Dresden die drei letzten Sinfonien von Mozart. Kann man da von Ihrem Kernrepertoire sprechen?

Philippe Herreweghe: Nach mehr als 250 Schallplattenaufnahmen ist mein Repertoire inzwischen sehr breit. Da nimmt Mozart keine prominente Stellung ein, weil ich Opern auch eher selten dirigiere, und besonders viele große Chorwerke gibt es nicht von ihm. Verglichen mit seinen frühen Sinfonien finde ich Haydn eigentlich interessanter, Brahms und Bruckner sowieso. Natürlich ist Mozarts Sprache nicht weit entfernt von der Alten Musik, und es ist mir eine Ehre, dass ich die letzten Sinfonien hier mit diesem fantastischen Orchester machen kann. Die Staatskapelle pflegt ja eher die große romantische Tradition, aber es sind natürlich allesamt tolle Musiker, die neuen Ideen offen gegenüberstehen.

Haben Spitzenorchester früher Barockspezialisten wie Sie eher belächelt?

Herreweghe: Bach wurde uns noch zugetraut, aber bitte, ihr Mozart gehörte ihnen! Und sie spielten ihn nicht idiomatisch. Die jungen Musiker von heute finden es aber interessant so. Ich mache das ja überall auf der Welt.

Welchen Anteil haben Sie an diesem Mentalitätswandel?

Herreweghe: Ihren Anfang nahm die Alte-Musik-Bewegung in den Niederlanden und in Belgien, weil wir die schwere deutsche Philosophie des 19. Jahrhunderts nicht gekannt haben. Dadurch ist unser Blick vielleicht ein wenig unverstellter, wir kennen uns mit barocken Manieren aus. Spielt in Belgien ein durchschnittliches Orchester Schubert, kommen hundert Leute. Zu einem Spezialensemble auf authentischen Instrumenten kommen tausend, weil diese Enthusiasten meistens sehr gut vorbereitet sind. Ihr Feuer überträgt sich auf das Publikum. Das nahmen die etablierten Orchester wahr, und wenn die Musiker intelligent sind, interessieren sie sich für neue Sichtweisen. Wenn man dann regelmäßig mit ihnen arbeitet, kommt beim nächsten Mal die Erinnerung wieder.

Scheint ein langer Prozess zu sein.

Herreweghe: Man kann auch nicht zu einem Konzertpianisten gehen und sagen: Spielen Sie bitte Jazz! Er muss sich auch erst mit dieser für ihn fremden Welt anfreunden. Ein Traum für die Zukunft wäre ein Orchester, das sich in allen stilistischen Epochen gut auskennt und je nach Bedarf die besten Besetzungen bietet. Für die Streicher ist es nicht das große Problem, weil man sich in relativ kurzer Zeit gut auf Darmsaiten einstellen kann. Bei den Holzbläsern sieht das schon anders aus. Wenn sehr gute Klarinettisten auf einem alten Instrument spielen, fangen sie quasi von vorne an. Diesen Qualitätsabsturz können sie oft nicht ertragen oder müssen zwei, drei Jahre wieder studieren, und dazu haben nicht alle Zeit oder Lust.

Also haben freie Ensembles noch immer ihre Berechtigung.

Herreweghe: Ihr Vorteil ist, dass sie kommen, wenn sie es möchten. Dann wollen sie die Musik auch wirklich machen. Die großen Spitzenorchester spielen im Dienst. Der Nachteil ist: Wenn Sie zum Beispiel Beethovens „Missa solemnis“ machen wollen, brauchen Sie hundert Leute. Da laufen pro Probentag enorme Kosten auf, die von den Veranstaltern kaum zu stemmen sind. Darum proben wir so schnell wie möglich und versuchen, viele Konzerte am Stück zu machen. Ich bin also darauf angewiesen, dass die Musiker mit der Stilistik bereits vertraut sind.

Funktioniert das denn bei so einem schweren Stück?

Herreweghe: Früher waren die größten Barockenthusiasten leider nicht immer die fähigsten Musiker. Karikiert gesagt wurden sie erst zu Spezialisten, weil sie in großen Orchestern die Probespiele nicht gewonnen hatten. Gleichwohl waren sie oft intelligent und empfindsam, kannten sich sehr gut mit der Literatur aus, aber die Finger waren eben nicht so versiert. So versuchten sie es dann eben mit Alter Musik. Inzwischen können die allerbesten Musiker beides. Wenn früher in der vom Naturhorn begleiteten Arie in Bachs h-Moll-Messe siebzig Prozent der Töne richtig waren, klopften wir uns dankbar auf die Schulter für ein richtig gutes Konzert. Heute ist es auch für moderne Musiker kein Problem mehr, alle Töne richtig zu treffen.

Wie hat sich die historische Aufführungspraxis in den letzten vierzig Jahren dadurch verändert?

Herreweghe: Bei Gustav Leonhardt haben wir damals für einen Choral zwei Stunden geprobt. Das kann sich keiner mehr leisten. Heute muss die h-Moll-Messe mit zwei Proben stehen. Dafür braucht man viel Erfahrung. Viele Barockspezialisten konnten anfänglich einfach handwerklich nicht dirigieren. Wer gut Cembalo spielt, führt noch lange nicht sechzig Musiker. Heute haben die Leute ein viel breiteres Repertoire und machen von Barock bis Strawinsky alles, auch ich. Eine Bach-Passion ist dirigiertechnisch ein Kinderspiel, verglichen etwa mit Brittens „War Requiem“.

Verstehen Sie Musiker, die darum nur das barocke Repertoire pflegen?

Herreweghe: Nein. Das ist, als würde ein Schauspieler nur Shakespeare oder Molière deklamieren. Je mehr ich Bruckner mache, desto besser verstehe ich Bach und umgekehrt. Das ist eine gute Wechselwirkung.

Kommt das genreübergreifende Wissen zu kurz in der Ausbildung?

Herreweghe: Man muss es vor allem wissen wollen. Wobei zu unterscheiden ist: Als Dirigent kann man flexibler sein. Eine Gesangsstimme ist einfach nicht für jede Musik geeignet.

Ergibt sich die Verengung von Repertoire und Stilistik auch aus dem Markt?

Herreweghe: Der Kommerz spielt natürlich eine Rolle. Deswegen habe ich vor knapp zehn Jahren mein eigenes Label gegründet, wo ich machen kann, was ich möchte, solange es sich halbwegs trägt. Ich bin sehr gerne in Deutschland und in Österreich, weil das Publikum noch Musikkultur hat und einerseits viel kennt, andererseits sehr neugierig ist. Es gibt sogar Publikumsorchester! Das ist anderswo unvorstellbar. Aber natürlich hält auch hier der Trend zum Showcharakter an, der von einigen Musikern nur zu gern bedient wird.

Es wird ja vor allem museale Musik gespielt, auch Strawinsky ist hundert Jahre alt.

Herreweghe: Das war das Schöne in der Anfangsphase der historischen Aufführungspraxis: Wir haben den damals nahezu unbekannten Monteverdi neu entdeckt, als wäre er ein Zeitgenosse. Was für Schätze uns damals die Bachkantaten waren, als wären es 200 Brahmssinfonien! Auch heute gibt es viele gute Komponisten, die ich sehr schätze, aber es gibt auch viel Quatsch, Papiermusik. All das ist vermischt. Bei den alten Meistern hat die Zeit das Gute vom weniger Guten geschieden. Schumanns Faustszenen mache ich demnächst auf der Bühne. Sein Problem ist, dass er außerhalb von Deutschland nicht gut verkäuflich ist. In Frankreich kennt man ja nicht mal Goethe.

Gibt es denn auch belgische Musik, die hier unbekannt ist?

Herreweghe: Ja, aber sie ist nicht sehr gut.

Wo liegt Ihre Mission, haben Sie sich Ihre Neugier erhalten?

Herreweghe: Bei all meiner Erfahrung halte ich Anton Bruckner immer noch für meine Mission. Ihn verstehen viele Musiker nicht. Viele sagen, sie sitzen im Konzert, das um acht Uhr beginnt, und wenn sie nach zwei Stunden auf die Uhr sehen, ist es viertel nach acht. Mein Traum wäre, den ganzen Bruckner neu aufzunehmen mit allem religiösen Geist, der aufzubringen ist, denn er war sehr katholisch und nicht gerade ein Intellektueller, also alles andere als ein protestantischer Musiker, der die ganze Bibel selber liest. Für ihn blieb alles Mysterium: unbegreiflich und sehr emotional. In diesem Sinne ist seine Musik ganz im Gegensatz zu Bach überhaupt nicht rational.

Haben Sie als ehemaliger Jesuitenklosterschüler eine besondere Beziehung zu Bruckner?

Herreweghe: Im Alter zwischen sieben und siebzehn sang ich jeden Tag in der Messe. Einmal pro Jahr mussten wir eine ganze Woche schweigen. Natürlich hat das einen Einfluss.

Sie haben Medizin studiert und drei Jahre als Psychiater mit Schizophrenen gearbeitet. Hilft Ihnen das für Ihre musikalische Arbeit?

Herreweghe: Das hilft mir nur in Interviews, wenn ich die Journalisten analysiere.

Und im Ernst?

Herreweghe: Musiker sind im Normalfall sehr offen und intellektuell wie emotional überreich. Aber ich bin froh, dass ich an der Universität studiert habe, weil man dort lernt nachzudenken – im Unterschied zum Konservatorium. Das ist wie ein Muskel, den man trainiert. Wenn man Dirigent ist, muss man vor allem analytische Denkkraft haben. Und Menschenkenntnis, um führen zu können.

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