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Interview Patricia Kopatchinskaja

„Diesen Nonsens finde ich wunderbar!“

Ob Dada, Wiener Schmäh oder Helmut Lachenmanns Nase: Patricia Kopatchinskaja hält im Interview so manche skurrile Überraschung bereit.

vonHelge Birkelbach,

Das Interview wurde kurzfristig anberaumt, so kurzfristig, dass fast keine Zeit blieb, die Fragen vorzubereiten. Patricia Kopatchinskaja wolle vor dem Interview noch schnell Joggen gehen, dann aber stünde sie bereit fürs Gespräch.

Sie kommen gerade vom Joggen. Wie war’s?

Patricia Kopatchinskaja: Ich jogge fast jeden Tag. Es hält nicht nur den Körper, sondern auch den Geist wach. Von unserem Haus sind es nur etwa drei Minuten bis zum Wald. Ich betreibe es nicht als Sport, sondern um in die Natur zu kommen und innere Dinge ausschütten zu können, um das Gehirn sozusagen zu säubern und die Augen zu erfrischen. Ich komme aus einer Familie, die seit Generationen Bauern waren. Mein Großvater hat noch draußen geschlafen, das muss man sich mal vorstellen! Er hat Wassermelonen gezüchtet und verkauft. Erst meine Eltern sind Musiker geworden. Aber ich spüre nicht unbedingt den Drang, den ganzen Tag draußen zu verbringen. Die Musik ist mein Wald. Die Tiere, die Geschichten …

Als Kind sind Sie also nicht auf Bäume geklettert?

Kopatchinskaja: Ich habe sehr aufgepasst, was ich mit meinen Fingern mache. Ich habe geübt. Das war für mich das echte Abenteuer, die echte Gefahr. Ich habe mir immer viel zu schwierige Sachen auf den Notenständer gelegt. Ich kann mich erinnern, dass ich als Kind sehr viel Bach geübt habe. Nur so macht man wirklich Fortschritte, mit Frechheit, Mut und auch Angst. Aber niemand hat mir diese Angst gemacht. Ich war ein sehr freies Kind. Ich habe das getan, was ich wirklich wollte.

Nun geht es nicht immer nur vorwärts, es gibt auch Rückschritte und Scheitern. Wie geht man damit um?

Kopatchinskaja: Mit Humor! (lacht) Dann sieht man seine Grenzen, muss sich wieder ausloten. Gott hat mich so geschaffen, wie ich bin, und so bin ich halt. Man probiert und probiert, anders geht es nicht. Man darf nicht erstarren, das ist in der Kunst der Tod! Wenn man immer nur gut sein will, wird man in eine Schublade gesteckt und entwickelt sich nicht mehr weiter. Ich sage mir immer: Was man sich vorstellen kann, das kann man auch tun. Natürlich nicht Fliegen oder so (lacht). Schon wenn man Angst hat, sich etwas vorzustellen, kommt man nicht weiter. Da fängt es schon an. Intuition ist sehr wichtig! Das ist Nummer eins. Wenn ich intuitiv spüre, dass etwas möglich ist, dann mache ich es. Beim Lernen eines Stückes kommt zuerst die intuitive Analyse, dann erst folgt die Ratio. Ich muss in das Wesen des Stückes eintauchen, es selbst werden, und erst zuletzt die Töne lernen. Unlängst habe ich gelesen: Empfinden, Intuieren, Fühlen und Denken, das sind nach C. G. Jung die vier psychischen Grundfunktionen. Interessant, oder? Wir dachten, dass nur das Denken wichtig sei, aber das stimmt nicht. Das ist genau unser Problem. Wir haben unlängst einen Film gestaltet mit einem dadaistischen Text von Kurt Schwitters, die Ursonate. Es kam etwas dabei heraus, was sich als ziemlich richtig herausgestellt hat. Es gibt zwar eine Gebrauchsanweisung, aber die habe ich erst später gelesen. Wir haben intuitiv das Richtige gemacht.

Was interessiert Sie an Dada?

Kopatchinskaja: Die Anarchie! Die Verselbständigung des Materials. Die Zerstörung der Regeln und der Parameter, die vermeintlich fassbar sind. Diesen Nonsens finde ich wunderbar! Es gibt viel zu wenig Nonsens auf der Welt. Dada kam aus Zürich, aber auch in Bern war vieles möglich: In unserem Berner Quartier, nur eine Straße von unserem Haus entfernt, wohnte Lenin, bereitete 1915 die Zimmerwalder Konferenz vor, bevor er nach Russland ging um die Revolution auszulösen. Albert Einstein hat hier seine Relativitätstheorie entwickelt, Paul Klee hat hier gelebt und gearbeitet.

Ganz gleich, in welcher Stadt sie auftritt, tägliches Joggen gehört immer dazu: Geigerin Patricia Kopatchinskaja
Ganz gleich, in welcher Stadt sie auftritt, tägliches Joggen gehört immer dazu: Geigerin Patricia Kopatchinskaja

Sie leben in Bern, studiert haben Sie aber in Wien, wo ihre Eltern hinzogen, als Sie zwölf Jahre alt waren. Was mögen Sie an Wien?

Kopatchinskaja: Den Schmäh! Kennen Sie den: Die Deutschen sagten im Krieg: „Die Lage ist ernst, aber nicht hoffnungslos“. Die Wiener dagegen: „Die Lage ist hoffnungslos, aber nicht ernst“.

Herrlich! Sie sind viel in der Welt unterwegs. Was war das Schrecklichste, was Sie je gesehen haben?

Kopatchinskaja: Los Angeles. Die armen schwarzen Menschen auf der Straße, das fand ich wirklich schrecklich. Und São Paulo, das so gefährlich ist, dass man in bestimmten Gegenden nicht aus dem Auto steigen sollte. Der dortige Konzertsaal ist in einem wunderschönen alten Bahnhof untergebracht, jedoch in einem der gefährlichsten Bezirke der Stadt gelegen. Aber was soll ich sagen? Wir Musiker sind in gewisser Weise elitäre Wesen, wie Höflinge gehalten. Wir spielen für eine Handvoll Menschen, während andere verhungern. Wenn man die andere Seite sieht, wird einem schmerzlich bewusst, wie weit dieser Unterschied auseinanderklafft, wie unrealistisch und falsch sich das Ganze anfühlt.

Sie geben sechs Porträt-Konzerte in der Elbphilharmonie. Das erste leitet Teodor Currentzis. Was schätzen Sie an dem Dirigenten?

Kopatchinskaja: Alles! Teodor Currentzis ist eine Figur, die wir seit Langem gebraucht haben. Er füllt vollkommen die Lücken aus, die bis jetzt gar nicht beachtet wurden, nämlich eine grundsätzliche Unangepasstheit, eine Verrücktheit, eine unkonventionelle Art zu denken. Raus aus den Schablonen! Die Arbeit, die er mit einem Orchester macht, ist einfach einzigartig. Es wird an jedem Detail geschliffen, alles überlegt mit einer Präzision, die einem Skalpell gleicht, und dann trotzdem aus dem Bauch heraus gespielt. Wenige Dirigenten können so arbeiten wie er.

An dem Abend in Hamburg spielen Sie auch ein Werk von Dmitri Kourliandski. Was können Sie darüber sagen?

Kopatchinskaja: Es heißt possible places. Die Partitur sieht faszinierend aus, viel kann ich aber noch nicht sagen. Ich habe die Partitur seiner Oper Nosferatu gesehen, die schaut ein bisschen aus wie ein EKG (lacht). Sehr oft gibt es Stücke, die Millionen von komplizierten Tönen haben, mir aber weniger sagen als das, was ich hier gesehen habe. Bei Kourliandski gibt es sehr viel Platz für Phantasie. Mit Currentzis könnte das Stück zu einer Art mystischer Insel werden. Im Programm befindet sich auch ein Werk von Helmut Lachenmann, … zwei Gefühle … heißt es. Ein Stück, auf das ich unglaublich neugierig bin, der Komponist wird persönlich den Part des Sprechers übernehmen. Lachenmann habe ich in einem sehr engen Lift in München kennengelernt, als wir im Herkulessaal spielten. Er ist ja sehr groß, ich bin sehr klein. Ich habe ihn ganz lange angeschaut und seine Nase bewundert. Ich glaube, ich habe ihm sogar gesagt: „Was haben Sie für eine unglaubliche Nase!“ Da hat er zu mir gesagt: „Lachen Sie mich nicht aus, junge Dame …“ Und ich habe geantwortet: „Aber Sie heißen doch Herr Lachenmann!“

Fand er das lustig oder nicht?

Kopatchinskaja: Doch, doch (schmunzelt).

Von welchem zeitgenössischen Komponisten würden Sie sich ein Auftragswerk wünschen?

Kopatchinskaja: Ach, ich halte nicht sehr viel von Auftragswerken. Maßgeschneiderte Stücke können auch ein Kompromiss für den Komponisten sein, oder er braucht schlicht Geld und produziert mit falschem Antrieb. Die besten Stücke sind die, die aus einer inneren Notwendigkeit heraus entstehen. Das ist wie ein Baby, das die Zeit der Schwangerschaft im Bauch überstanden hat und jetzt raus will. Dann ist es richtig. Auftragswerke sind oft Frühgeburten – oder sogar Fehlgeburten.

Ihre Konzerte geben Sie meist barfuß. Bei welcher Gelegenheit würden Sie nie barfuß gehen?

Kopatchinskaja: Ich würde nie barfuß auf eine öffentliche russische Toilette gehen. Wirklich: nie!

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