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Interview Paavo Järvi

„Neugier ist ein wichtiger Motor“

Paavo Järvi über das richtige Alter für Dirigenten, die Absurdität des Künstlerlebens und unterschiedliche Publikumsmentalitäten

vonMichael Blümke,

Paavo Järvi entstammt einer estnischen Dirigentenfamilie, sein Vater Neeme und sein Onkel Vallo begründeten die Familientradition, Paavo und sein zehn Jahre jüngerer Bruder Kristjan traten in ihre Fußstapfen. Seit 2004 ist Paavo Järvi künstlerischer Leiter der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen, seit 2006 auch Chefdirigent des hr-Sinfonieorchesters. Mit Beginn der Saison 2010/11 übernahm er außerdem das Orchestre de Paris, für das er sich vom Cincinnati Symphony Orchestra getrennt hat, dem er zehn Jahre lang verbunden war.

Das eigentliche Dirigentenleben fängt wohl erst jenseits der 50 an“, äußerten Sie einmal in einem Interview. Ende Dezember ist es bei Ihnen so weit – geht es jetzt erst richtig los?

Das habe ich vor vielen Jahren gesagt, aber je näher ich der 50 komme, desto mehr merke ich, wie wahr das ist. Ich dirigiere professionell seit 1985, aber ich kann ehrlich sagen, dass ich erst jetzt genug Erfahrung und Vertrauen habe, um bewerten zu können, was ich tue. Und ich ertappe mich immer öfter dabei, wie ich denke, jetzt habe ich‘s, jetzt verstehe ich, wie es geht. Richtiges Dirigieren beginnt erst mit größerer Erfahrung, nachdem man die Gelegenheit hatte, in das Repertoire hineinzuwachsen, mit ihm zu wachsen. Auch persönlich, menschlich.

Dirigenten scheinen eine Spezies zu sein, die mit zunehmendem Alter immer besser wird.

Das ist einerseits natürlich ein Klischee, denn für jeden guten alten Dirigenten gibt es genug andere, die zu früh gestorben sind, um ihr Potential entwickeln zu können. Allerdings gibt es auch irgendwo einen Wendepunkt, ab dem gewisse Dirigenten eher schlechter werden, weniger bedeutend und aus dem Blickfeld rücken. Und dann gibt es da diejenigen, die zu diesen großen alten Männern werden, weil sie etwas Interessantes zu sagen haben, weil sie ihrem Musizieren einen gewissen Wert, eine gewisse Tiefe verleihen, Leute dazu bringen, ihnen zuhören zu wollen. Da wir nun mal in einer sehr oberflächlichen Welt leben, schätzen wir am Anfang die falschen Dinge, geben etwas auf heiße Luft, bedeutungslose Gesten, Image und Showeffekte. Dinge also, die beeindruck-end sein können, doch irgendwann gelangt man an einen Punkt, an dem man müde wird, das alles durchzumachen. Und dann sieht man, wer nur das bietet und wer auch Tiefe und Substanz hat. Das Merkwürdige ist, dass Alter nicht gleich Tiefe oder Größe bedeutet. Es gibt eine Menge Leute, die auch im vorgerückten Alter nicht viel zu sagen haben. Und umgekehrt.

„Das Talent muss reifen wie ein guter Wein“, lautet ein anderer Ausspruch von Ihnen. Welcher Wein sind Sie? Weiß oder rot? Italiener oder Franzose?

Rot, auf jeden Fall. Italiener oder Franzose, oder auch Spanier, ist egal, ich liebe sie alle. Aber es gibt etwas bei diesem Reifeprozess. Ich will jetzt nicht selbstgefällig oder angeberisch klingen, aber ich kann sagen, wenn jemand die Musik nicht verdaut, nicht verarbeitet hat. Nicht, weil er nicht hart gearbeitet hat oder die Musik nicht genug liebt, sondern weil er einfach nicht genug Zeit hatte. Es braucht seine Zeit. Mahlers Erste beispielsweise, die ich gestern geprobt habe, habe ich bestimmt schon zwanzig Mal aufgeführt. Doch erst gestern Abend sind mir einige Sachen aufgefallen, die ich bisher „falsch“ gemacht habe. Für mich falsch, weil ich gemerkt habe, dass man sie besser machen kann. Manchmal muss man auch den Mut haben, Dinge anders zu machen. Und der kommt mit dem Alter.

Und noch ein letztes Järvi-Zitat: „Dirigent ist kein Job, sondern eine Lebensweise.“ Wie sieht diese Lebensweise aus?

Es ist eigentlich ein schrecklich narzisstisches, selbstbezogenes, geradezu lächerliches Leben, wenn man anfängt, darüber nachzudenken. Erstens dreht sich alles, wirklich alles, um dich. Es geht immer um deinen Terminplan, um deine Verfügbarkeit, Menschen unternehmen alle möglichen Anstrengungen, um es dir recht zu machen. Aber das ist nicht das Leben. Leben ist, mit Menschen in Kontakt zu treten, sich zu verlieben, Kinder zu bekommen, morgens aufzuwachen und mit deiner Familie zu frühstücken. Leben ist nicht, morgens aufzuwachen und nicht zu wissen, in welcher Stadt du gerade bist. Und deshalb kann man es – wenn man es als Job betrachtet – sehr schnell satthaben. Doch wenn Musikmachen das Höchste für dich ist, dann nimmst du alles in Kauf. Wie gesagt, es ist auf seltsame Weise ein absurdes, schrecklich egozentrisches Leben.

Muss man als Künstler egozentrisch sein?

Ich versuche, auf dem Boden zu bleiben. Und nichts bringt einen wieder besser zurück auf die Erde als Kinder. Ich habe zwei Töchter, fünf und acht Jahre alt. Denen ist es völlig egal, ob du ein berühmter Dirigent bist. Die wollen einfach mit dir zusammen sein. Wenn du morgens aufwachst und sie springen einfach auf dich drauf, überlegst du nicht, fühle ich mich heute Morgen gut, habe ich Kopfschmerzen, dann hat das Leben einfach begonnen. Das ist das Beste auf der Welt. Dann weißt du, was wichtig ist.

Bei Ihnen waren Bernstein und natürlich Ihr Vater die prägenden Figuren. An wen geben Sie Ihr Wissen weiter?

Das ist eine gute Frage. Es ist so offensichtlich, dass mein Vater mir alles vermittelt hat, was er wusste. Und es ist genauso offensichtlich, dass ich deswegen Dirigent bin. Nun habe ich zwei Töchter, und ich bin mir nicht ganz sicher, ob ich überhaupt will, dass sie Dirigentinnen werden – wobei die Ältere die Persönlichkeit dazu hätte. Ich habe ein Sommerfestival in Estland, bei dem Dirigierkurse mit einem Festivalorchester einen wesentlichen Teil ausmachen. Und da merke ich, dass mir das Unterrichten enorm viel Freude bereitet, weil ich eine Menge lerne. Ich glaube fast, dass ich für mich mehr lerne als die Teilnehmer von mir. Es ist unglaublich interessant, den Prozess zu verfolgen, wie man Dirigent wird. Wenn ich sehe, wie junge Dirigenten ihren Weg finden und diese elementaren Fehler machen, wird mir klar, dass es die gleichen Fehler sind, die ich gemacht habe, als ich am Anfang stand. Deswegen hoffe ich auch, weiterhin unterrichten zu können.

Sie sind quasi in einem Opernhaus groß geworden, weil Ihr Vater damals Leiter der estnischen Oper war. Würde Sie eine tolle Opernproduktion hier und da nicht reizen?

Ich denke in letzter Zeit immer häufiger darüber nach. Denn ich bin mittlerweile an einem Punkt angekommen, wo ich mit einigen Ausnahmen den Großteil des Orchesterrepertoires, das ich dirigieren wollte und sollte, gemacht habe. Natürlich gibt es nach wie vor eine Menge Musik, auf die ich neugierig bin, aber Oper reizt mich immer stärker, nur dass ich bisher mit drei Orchestern nie lange genug Zeit am Stück dafür hatte. Und einfach mit nur einer Probe einige Vorstellungen zu übernehmen, das ist nichts für mich, das befriedigt mich nicht. Wahrscheinlich wäre es am besten, die Sache mit einem meiner Orchester anzugehen und Zeit für ein solches Opernprojekt zu finden.

Gerade hat Ihre dritte Saison in Paris begonnen. Haben Sie Unterschiede in der Publikumsmentalität im Vergleich zu Deutschland festgestellt?

Die Deutschen sind vielleicht nicht das feurigste Publikum, aber sie sind ernsthaft bei der Sache. Wenn ihnen etwas gefällt, klatschen sie sehr lange, sie zeigen ihre Wertschätzung. Franzosen sind eher wie ein Streichholz, sie entzünden sich ungeheuer schnell, aber die Flamme geht auch schnell wieder aus. In Deutschland kann es durchaus passieren, dass der Applaus nur mittelstark ist, nicht über ein Mezzoforte hinausgeht, und man denkt, ach, es hat ihnen nicht so besonders gefallen. Doch dann muss man 15 Mal auf die Bühne kommen, weil sie einen nicht gehen lassen wollen. In Frankreich dagegen schreien die Leute ihre Begeisterung raus, da gibt es sofort standing ovations – und im nächsten Moment ist schon alles vorbei.

Den Test schlechthin – die Beethoven-Sinfonien – haben Sie bravourös bestanden. Gibt es noch einen anderen Test, den man als Dirigent bestehen muss?

Ich finde, dass es unmöglich ist, Brahms gut zu dirigieren. Für mich ist das eine absolut unlösbare Aufgabe. Es ist mir noch nie gelungen, Brahms so zu dirigieren, dass ich damit zufrieden war, nicht einmal ansatzweise. Brahms klingt entweder immer aufgedonnert und erhaben à la Karajan oder irgendwie interessant – nicht überzeugend – aber interessant wie bei Harnoncourt. Das liegt daran, dass man sich kühn in das Gebiet vorwagen muss, das Brahms uns nicht sehen lassen will, das er vor uns zu verbergen sucht, indem er überall diese Wälle errichtet. Und so sind die Interpretationen immer emotional unterbelichtet oder übertrieben, die Balance stimmt irgendwie nie. Es gibt nur einige wenige überzeugende, Furtwängler zum Beispiel. Oder Bernstein. Und deswegen ist Brahms die nächste Herausforderung für mich, der ich mich mit der Deutschen Kammerphilharmonie stellen werde.

Wie viele neue – für Sie neue – Werke führen Sie jede Saison auf?

Fünfzehn, zwanzig. Ja, ein Menschenleben ist nicht genug für das Repertoire. Aber der Appetit und die Neugier sind da. Und die nehmen auch nicht ab, im Gegenteil. Man muss sich einfach entscheiden, wie wichtig einem diese Sachen sind, wie viel Zeit man sich dafür nimmt – und wie hoch der Preis dafür ist. Für mich ist es mittlerweile klar, dass ich dieses musikzentrierte Leben will, ich glaube, ich könnte gar kein anderes ertragen.

Gibt es für Sie denn ein Leben neben der Musik? Haben Sie noch Zeit für Hobbies?

Nein, Hobbies habe ich nicht. Ich weiß, es klingt ein bisschen albern, aber die Musik ist mein Hobby.

Das heißt, wenn Sie lesen, lesen Sie keinen Roman, sondern Partituren …

Ich lese gern Biografien, nicht nur über Musiker, auch über Politiker. Aber einen Roman habe ich schon lange nicht mehr gelesen.

Und wie viel Zeit bleibt für die Familie?

Nicht genug. Aber ich versuche immer, wenn ich eine Woche frei habe, in die Staaten zu fliegen. Und den Sommer verbringen wir immer zusammen in Estland.

Das bedeutet aber auch, dass Sie nicht wirklich ausspannen können, wenn Sie zu Hause sind.

Ja, aber dafür wird man auf andere Weise entschädigt, die Batterien wieder aufgeladen. Es gibt nichts Schöneres, als die Neugier eines Kindes zu erleben. Wir Erwachsenen haben diese Neugier auch in uns, aber unser Leben ist so angefüllt mit anderen Sachen, dass wir manchmal der Neugier müde werden. Aber Neugier ist ein wichtiger Motor, der dich immer vorantreibt.

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