Bremen, Zürich, Tokio, die USA im Allgemeinen: Paavo Järvi hat zahllose zweite Heimaten. Doch auch in Hamburg ist der Kosmopolit bemerkenswert oft zu erleben, am Tage des Interviews etwa mit Sinfonien von Haydn. Manche Menschen haben eben auch so manche dritte Heimat.
Die Deutsche Kammerphilharmonie Bremen und Sie sind bekannt und vielerseits gerühmt für Ihre Gesamteinspielungen von Beethoven, Schumann und Brahms. Derzeit haben Sie Joseph Haydns Londoner Sinfonien im Fokus, die der Komponist in seinen Sechzigern geschrieben hat. Sie selbst wurden vor Kurzem auch sechzig Jahre alt. Hat man da eine besondere Verbindung zu diesen Sinfonien?
Paavo Järvi: Es gibt tatsächlich eine besondere Verbindung zu den Werken Haydns, dies aber unabhängig von meinem Alter. Als Kind habe ich die Sinfonien vierhändig mit meinem Vater am Klavier gespielt. Für mich waren – und sind – diese Werke die Essenz von Musik. Das habe ich auch so von meinem Vater mit auf den Weg bekommen: Haydn legte das Fundament dessen, was in der Musikgeschichte folgte. Ich spreche da wohlgemerkt über das sinfonische Schaffen und möchte keinesfalls die Musik Bachs oder die Tonschöpfungen des Mittelalters kleinreden.
Sie haben damals das sinfonische Repertoire über das Klavierspiel kennengelernt?
Järvi: Nicht nur. Schon in meiner Kindheit hörte ich unzählige Aufnahmen – zumindest im Rahmen der damaligen Verfügbarkeit von Musik, das alles ist ja schon fünfzig Jahre her! Unter den Einspielungen der Londoner Sinfonien gab es auch eine von Sir Thomas Beecham. Diese Interpretationen hatten viel Witz, ja, eigentlich auch viel Humor im Vergleich zu anderen, eher akademischen Interpretationen. Allerdings habe ich das Gefühl, dass das Interesse an Haydns Musik kleiner geworden ist.
Woran liegt das?
Järvi: Haydn ist nicht so sensationell, so exaltiert wie ein Mozart, nicht so dramatisch wie ein Beethoven, nicht so opulent wie ein Wagner. Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass jede einzelne von Haydns so zahlreichen Sinfonien ein einzigartiges Juwel ist.
Hören Sie auch heute noch Aufnahmen?
Järvi: Oh ja! Ich gehöre überhaupt nicht zu den Musikern, die standhaft die Devise verfolgen, ja keine Aufnahmen von Kollegen zu hören. Das ergibt für mich keinen Sinn! Wenn man Zugang zu historischen Aufnahmen hat oder mit einem Knopfdruck hören kann, wie Kollegen einen ganz anderen ästhetischen Standpunkt vertreten als man selbst, dann weitet das den Horizont ungemein. Man muss halt der Versuchung widerstehen zu kopieren oder zu imitieren. Ich ermutige auch all meine Studenten und jüngere Kollegen, so viele Interpretationen wie möglich zu hören – gerade auch die Aufnahmen, die konträr zur eigenen künstlerischen Auffassung und Überzeugung stehen.
Zu welchem Lager gehören Sie: zu den Hifi-Aficionados oder zu jenen, die mit Handy und Kopfhörer hören?
Järvi: Ich höre immer online mit Kopfhörern. Manchmal habe ich einen kleinen portablen Lautsprecher bei mir. Ich bin viel unterwegs, also kommen CDs gar nicht mehr infrage.
Sie erarbeiten derzeit auch noch einen Bruckner-Zyklus mit dem Tonhalle-Orchester, mit dem NHK aus Tokio sind Sie mit Strauss zu erleben, um nur zwei weitere Projekte zu nennen, die Sie derzeit mit diversen Orchestern erarbeiten. Laufen diese Projekte für Sie parallel nebeneinander oder sind sie miteinander verwoben?
Järvi: In gewisser Weise ist beides der Fall. Bei einem Projekt arbeitet man intensiv mit einem Orchester zusammen und vergräbt sich in die Welt eines Komponisten. Andererseits brauche ich auch den Kontrast, die Vielseitigkeit. Ich würde sagen, dass ich hinsichtlich meiner musikalischen Persönlichkeit eher eklektisch veranlagt bin, „Spezialistentum“ ist mir grundsätzlich verdächtig. Ohne Haydn gäbe es keinen Bruckner oder Mahler, ohne Debussy keinen Messiaen und so weiter.
Auch Ihre Alben sind weniger Einzelveröffentlichungen als vielmehr Projekte bzw. Zyklen. Ihr erster solcher Zyklus waren die Sinfonien von Lepo Sumera. Sie waren damals Anfang dreißig. Hatten Sie von Beginn Ihrer Karriere an das künstlerische Konzept, ganzheitlich zu denken?
Järvi: Es hat sich in diese Richtung einfach entwickelt. Lepo Sumera war mein Freund, er war ein toller estnischer Komponist und hat sechs wunderschöne Sinfonien geschrieben, die niemand eingespielt hat. Außerdem hatte ich das Bedürfnis, estnische Musik einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen.
Was Ihnen bis zum heutigen Tage ein besonderes Anliegen ist. Was zeichnet denn estnische Musik aus?
Järvi: Das ist schwer zu sagen. Die estnische Musikkultur ist relativ jung, da das Land erst im 20. Jahrhundert wirklich unabhängig wurde und zuvor lange Zeit von fremden Ländern okkupiert war oder unter fremdem Einfluss stand. Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts traten dann aber in Estland die ersten großen Komponisten sinfonischer Musik in Erscheinung: Rudolf Tobias, Eduard Tubin, später natürlich auch Arvo Pärt als bekanntester estnischer Komponist. Sie alle haben aber keine gemeinsame musikalische Sprache. Zum Glück gibt es nur wenige estnische Komponisten, die auf wie auch immer geartete folkloristische Elemente zurückgreifen.
Warum „zum Glück“?
Järvi: Diese Musik – das ist jetzt meine persönliche Meinung – ist bestenfalls charmant, meist aber einfach nur nett. Wenn man komponiert und dabei nur die eigenen nationalen Folklorelieder im Kopf hat, limitiert das einen. Niemand würde über Arvo Pärts Musik sagen, dass sie typisch estnisch klingen würde. Manche Leute hören in der Musik von Tüür, Sumera oder Pärt eine gewisse Spiritualiät heraus, das mag durchaus sein. Auf die Frage, was typisch amerikanische Musik sei, hat John Adams einmal geantwortet: Musik, die von Amerikanern geschrieben wurde. Dafür braucht es keine wie auch immer geartete Rodeo-Folklore! Aaron Copland hat das versucht, ich persönlich schätze diesen Komponisten nicht sonderlich.
Mit siebzehn Jahren emigrierten Sie mit Ihrer Familie in die USA. Vor zwölf Jahren gründeten Sie das Festival im estnischen Pärnu. War das für Sie eine Art Rückkehr in die alte Heimat?
Järvi: Wir kamen seit der Perestroika wieder regelmäßig nach Estland. Unsere Idee des Festivals war, den jungen Musikern unseres Landes die Möglichkeit zu bieten, mit Mitgliedern internationaler Spitzenorchester zusammenzuarbeiten – ihnen eben nicht nur aus der Ferne zuzusehen, sondern mit ihnen im Orchester ein Notenpult zu teilen und gemeinsam zu spielen. Es ist fantastisch, wie rasant sich während einer Festivalspielzeit die angehenden Musikerinnen und Musiker entwickeln. Viele von ihnen studieren in England oder Italien oder Deutschland, nachdem sie in Pärnu ihre heutigen Lehrer kennengelernt hatten, viele frühere Teilnehmer haben außerdem Leitungsfunktionen in großen Orchestern inne. Für die estnische Musikszene ist dies ein doppelter Gewinn: Heimische Musikerinnen und Musiker erfahren die Förderung, die sie verdienen, und internationale Musiker kommen hierher und füllen die Konzertsäle.
Wann war der Punkt, an dem Sie Ihre Erfahrungen an die Nachfolgegeneration weitergeben wollten?
Järvi: Ich habe immer schon gerne unterrichtet. Bei meinen Masterclasses in Zürich und in Pärnu merke ich, dass ich nicht nur die Studenten, sondern auch mich selbst unterrichte: Sieht man ein bestimmtes dirigentisches Problem bei anderen, kontrolliert man sich selbst gleich mit. Schließlich muss ich selbst das umsetzen, was ich von den Studenten verlange. Das ist nämlich ein generelles Problem: Je mehr Erfolg man hat, desto unkritischer steht man sich selbst gegenüber.
Erinnern Sie sich noch, wie Ihr erstes „professionelles“ Konzert war?
Järvi: Es war 1985 in Trondheim mit Sibelius und Pärt, von beiden die erste Sinfonie. Ich war noch Student und sprang spontan für einen Dirigenten ein, der abgesagt hatte. Ein fantastisches Konzert – zumindest in meiner Erinnerung (lacht). Auf jeden Fall aber war es ein erhebendes Erlebnis, weil mir an diesem Abend endgültig klar wurde: Das ist meine Berufung.