Kunst war stets für ihn etwas, das zeigt, wie schön die Welt sein könnte: Treffender als in diesem Kritikersatz lässt sich die Essenz von Menahem Presslers Leben kaum auf den Punkt bringen. Er, der 1938 nach der „Reichspogromnacht“ mit den Eltern aus Magdeburg vor den Nazis fliehen musste, fand in Israel ein neues Zuhause, im Beaux Arts Trio aber seine künstlerische Heimat. 54 Jahre lang wirkte er hier als Pianist, stets hellwach und in absoluter Hingabe an die Musik.
Wie alt Sie sind, wissen wir. Doch wie alt fühlen Sie sich, wenn Sie am Klavier sitzen?
Ich kann nicht so tun, als wüsste ich nicht, wie alt ich bin. Es geht auch nicht, dass man sagt, man sei so alt, wie man sich fühle. Es ist anders: Das Alter stört mich nicht. Es fehlt mir nichts auch wenn ich nicht mehr die hochvirtuosen Werke von Liszt spielen kann, die ich als junger Mann gespielt habe. Ich spiele jetzt nur noch die große Musik, die mir Genugtuung gibt.
Sie wollen also keine Zeit mehr „verschwenden“?
Gänsefüßchen helfen da auch nicht weiter. Ich bin so alt, wie ich bin. Ja, ich will keine Zeit mehr verschwenden.
Hätten Sie je geglaubt, dass Sie über Neunzig werden?
Nein. Wie kann man so etwas glauben? Sie haben ja keine Ahnung, wie schnell die Jahre vorbeigegangen sind! Und trotzdem habe ich das Gefühl, ich habe jetzt mehr Zeit. Ich habe etwa nie irgendwelche Wiederholungen gespielt, ich dachte, das Publikum mag das nicht. Und auf einmal kam der Moment, wo ich dachte, mir fehlen diese Wiederholungen – gerade bei den Schubert-Sonaten. Und jetzt spiele ich sie, sie sind wichtig, um Werke wie die große B-Dur-Sonate zu verstehen. Als junger Mann war mir selbst das zu lang, ich dachte, ich muss weiter. Doch jetzt können mir die Sätze nicht lang genug sein: Man braucht die Zeit, um alle Facetten zum Ausdruck zu bringen.
Sind Ihre Eltern auch so alt geworden?
Meine Eltern sind nicht so alt geworden wie ich. Das Seltsame ist, meine Eltern trugen Brillen, meine Geschwister trugen Brillen, meine Frau trägt eine Brille, meine Kinder tragen Brillen – ich bin der einzige, der keine Brille trägt.
Sie sind ein Glückspilz!
Ja, das bin ich. Ach, es gibt ja gar keine Übersetzung für Glückspilz im Englischen! Lucky mushroom? Ja, das bin ich. Es war, als wäre man in Gottes Hand. Etwa als wir Deutschland …
… in Magdeburg, wo Sie 1923 geboren wurden …
… nach der sogenannten „Reichskristallnacht“ 1938 verlassen mussten. Meine Eltern hatten dort ein Geschäft für Herrenkonfektion, das an diesem Tag zerstört wurde. Wir gingen nach Italien, nach Triest, um dort ein Schiff nach Palästina zu nehmen. Der einzige Ort, wo man damals kein Visum brauchte, war Shanghai. Nie werde ich den Moment vergessen, als wir das Zertifikat für Palästina bekamen. Als das Schiff in Haifa den Anker angelegt hat, waren wir zweimal geschützt und gerettet worden. Zweimal in Gottes Hand.
Dieses Glück hatten Ihre Großeltern und Ihr Onkel nicht.
Der Bruder meines Vaters war ein wunderbarer Tenor. Als seine Frau abtransportiert wurde, ist er zum Lager und sagte: Nehmt mich, lasst meine Frau raus – da haben sie ihn auch behalten. Doch ich erinnere mich auch an einen SA-Mann, der meinem Bruder half, als er mit dem Fahrrad stürzte und sich den Fuß brach. Ich erinnere mich lieber an gute Sachen.
Musik als Rettung?
Unbedingt! Das Klavier hat meinen Geist gerettet und meinem Leben einen Zweck gegeben. Es ließ mich vieles vergessen. Auf dem Schiff nach Palästina habe ich sogar beim Captain’s Dinner gespielt.
Sie haben ja bestimmt auch von den vielen Flüchtlingen gehört, die sich heute nach Deutschland aufmachen. Was empfinden Sie da?
Es ist furchtbar und unglaublich. Das Allerschlimmste ist, dass viele Flüchtlinge ihr Land nicht nur zum Überleben verlassen, sondern eigentlich, um besser zu leben. Es ist ein Drama ohne eine richtige und gerechte Lösung, denn auch die Menschen, die in ihrem eigenen Land arbeitslos sind, können darüber nicht glücklich sein.
Wie viele Pässe besitzen Sie?
Den amerikanischen Pass und den israelischen …
… und die deutsche Staatsbürgerschaft, für die Daniel Hope sich sehr eingesetzt hat.
Ja.
Drei Länder waren bestimmend für Ihr Leben: Israel, die USA und Deutschland. Was bedeuten Ihnen diese Länder?
Israel hat mir die Freiheit gegeben zu studieren, das Bewusstsein, ein Mensch zu sein, mir klar zu werden, dass ich erwünscht bin, dass ich einen Platz auf der Welt habe. Amerika war der Ort meiner größten Erfolge, ob beim Debussy-Wettbewerb in San Francisco oder in Bloomington, wo ich zunächst als Lehrer anfing und dann Professor wurde mit vielen Ehrendoktoraten. Deutsch, das ist meine Muttersprache: Dass gerade Deutschland das Trio mit so offenen Armen aufgenommen hat und mich dann später auch als Solist – das hat mich sehr berührt. Ein Traum hat sich erfüllt.
Zurück nach Israel: 1946 erfuhren Sie von einem Debussy-Wettbewerb in San Francisco …
… und ich beschloss sofort, an dem Wettbewerb teilzunehmen, obwohl ich vielleicht zwei Werke von Debussy spielen konnte. Ich kam mit einer TWA-Maschine, die an jeder Milchkanne hielt, über Kairo und Athen nach New York. Darius Milhaud saß in der Jury – und ich gewann! Und wieder: lucky mushroom!
Acht Jahre später, 1954, gründeten Sie dann mit Daniel Guilet und Bernard Greenhouse das Beaux Art Trio.
Das Debüt war in Tanglewood, 53 Jahre lang waren wir zusammen, das Trio hätte 2014 seinen 60. Geburtstag gefeiert. Doch 2009 habe ich es aufgelöst.
Warum?
Daniel Hope, unser letzter Geiger, strebte eine Solokarriere an. Ich hatte im Laufe der Jahrzehnte fünf verschiedene Violinisten erlebt. Ich wollte keinen weiteren mehr erziehen.
Muss denn der Pianist eines Trios immer den Geiger erziehen?
Nicht immer, aber in diesem Falle schon. Ich hatte ja eine so lange Erfahrung mit dem Trio, und deshalb musste ich es tun – einen lieberen und netteren Erzieher konnte Daniel gar nicht finden.
Wer Sie mit dem Trio auf der Bühne erlebte, sah an Ihrem Blick, dass Sie alles unter Kontrolle hatten.
Daniel hatte eine Art des Folgens und Lernens, die ich ganz wunderbar fand. Schließlich war ich doch der, der so viele Jahre Trio gespielt hatte, und dies auf der höchsten Ebene.
Bei einem Ihrer ersten Auftritte nannten die Leute das Beaux Arts Trio „das Orchester des kleinen Mannes“.
Die dachten sich vielleicht, ich sei ein armer kleiner Pianist, der sich nur einen Geiger und Cellisten leisten kann.
Und wie groß sind Sie wirklich?
An einem guten Tag bin ich 1,56 m groß – aber auf der Bühne fühle ich mich wie 1,84 m.
Ganz sicher auch im Oktober, wenn Sie mit der Sächsischen Staatskapelle unter Christian Thielemann Mozarts Klavierkonzert spielen.
Ich hätte ja nie gedacht, dass ich je berühmt werde als Solist und mit den ganz großen Orchestern spielen werde. Es ist eine so große Freude, ein so großes Geschenk vom Himmel, dass man das tun kann, eine große Erfüllung. Ich wollte immer musizieren, mich der großen Musik widmen, nicht nur interpretieren, sondern mein Publikum auch dazu bringen, die Musik so zu lieben, wie ich es auch tue.