Eine der ersten Lehren, die Max Richter aus der Corona-Zeit gezogen hat, ist, auf unnötige Reisen zu verzichten. Also findet das Treffen virtuell statt. Zurückgelehnt in einem schweren Ledersessel nimmt sich der britische Komponist viel Zeit, um sein Verhältnis zur Klassik-Branche zu erklären. Vielen Hörern und Kritikern gilt er als populärer Vertreter der „Neo-Klassik“ – eine Bezeichnung, die Richter selbst ablehnt.
Herr Richter, in einem Interview mit der „Welt“ sagten Sie einmal, dass Ihre Musik „von sozialem Nutzen“ sein soll. Was meinen Sie damit?
Max Richter: Unsere Welt ist sehr voll, geradezu überfüllt mit intellektuellen Objekten, Kunstwerken und Daten jeder Art. Wenn ich dem nun selbst etwas hinzufüge – wissend, dass es bereits sehr viel gute Musik gibt – dann mache ich das nur, wenn ich das Gefühl habe, dass dieses Werk bedeutsam ist und nicht bloß eine musikalische Fingerübung.
Sie haben unlängst Ihr achtstündiges Werk „Sleep“ für den Alltagsgebrauch aufbereitet, in Form einer Handy-App, die einem verschiedene Tages-Phasen mit entsprechenden Werkpassagen untermalt.
Richter: Ja, die App geht noch ein Stück weiter als unsere Aufführungen, bei denen die Zuhörer auf Betten Platz genommen haben und einschlafen konnten. Man kann das Werk jetzt personalisieren, die App ist adaptiv und passt sich zum Beispiel an die Schlafdauer an. Ich finde die Nützlichkeit von Musik spannend. In der zeitgenössischen Musik ist so ein Ansatz verpönt, aber im Barock oder in der Klassik ging es immer auch um den Gebrauchswert von Musik. Mozart hat Werke für jede erdenkliche menschliche Aktivität geschrieben.
Gibt es ein klassisches Musikstück, welches Sie im Alltag nutzen?
Richter: Das mag jetzt exzentrisch klingen, aber ich habe eine Zeit lang jeden Tag mit einer Goldberg-Variation begonnen. Weil es mir jeden Morgen das Gefühl gegeben hat, zu einer Reise aufzubrechen.
In der Filmdokumentation zu „Sleep“ sagt Ihre Partnerin Yulia Mahr, Sie wären „nicht interessiert an einem Publikum von hundert Leuten, die sich mit Klassik auskennen.“ Wie würden Sie das selbst erklären?
Richter: Ich habe eine traditionelle, klassische Komponisten-Ausbildung absolviert, ich war an der Royal Academy in London und habe in Italien bei Berio studiert. Damals gab es eine gewisse Orthodoxie, was gute Musik ist: die Zweite Wiener Schule, Modernismus, Boulez. Der Anspruch war, dass eine Komposition immer auch eine Art technisches Manifest ist, weshalb Festivals mit dieser Musik oft an Linguistik-Seminare erinnerten.
Ihnen war das zu akademisch?
Richter: Verstehen Sie mich nicht falsch, es gibt großartige, beeindruckende Musik, die aus der damaligen Situation entstanden ist, „Pli selon pli“ von Pierre Boulez ist wundervoll. Doch es ist eben sehr oft Musik für Spezialisten, im Publikum sitzen dann häufig Menschen, die selbst Komponist oder Musikkritiker sind.
Was entgegnete Luciano Berio Ihrer Skepsis?
Richter: Als ich bei ihm studierte, schrieb ich noch sehr dichte, komplexe Stücke. Eben weil man mir beigebracht hatte, dass kompliziert gleich gut ist. Berio hat mich daraufhin gefragt, was mein Ziel sei. Meine Antwort war: Geschichten erzählen, Gefühle transportieren. Da hat mich Berio ermutigt, direkter und ehrlicher zu sein. Parallel dazu, Ende der achtziger Jahre, hörte ich immer mehr Musik der amerikanischen Minimalisten, auch Werke von Louis Andriessen oder Arvo Pärt. Die Art, wie sie Tonalität neu bewertet haben, hat mich angesprochen, auch weil ich selbst schon länger eine Faszination für die Renaissance und vortonale Musik hegte. Dadurch inspiriert habe ich meine musikalische Sprache vereinfacht. Meine Musik sollte weniger eine technische Übung sein als vielmehr ein Transportmittel für Inhalt.
Ging es Ihnen dabei auch um Klangschönheit?
Richter: Ja, auch darum ging es. Im akademischen Bereich war das Streben nach einem schönen Klang nicht ungefährlich, es machte einen suspekt. Und das fand ich merkwürdig: Warum betrachten wir Kunstwerke aufgrund von Schönheit als minderwertig oder substanzlos? Diese Denkweise trifft man vor allem in Europa an, in Asien dagegen geht man mit Schönheit in der Kunst ganz anders um.
Fühlten Sie sich früher von der Klassik-Welt ausgeschlossen?
Richter: Ja, auf eine gewisse Weise schon. Deshalb habe ich auch meine Musik zuerst auf CD veröffentlicht. Über den normalen, traditionellen Weg wäre es nicht zu einer Aufführung gekommen – daran bestand kein Interesse, weil meine Musik nicht als substantiell betrachtet wurde.
Mittlerweile komponieren Sie auch Auftragswerke für den Konzertsaal.
Richter: Ja, im Moment schreibe ich ein Orchesterwerk für das Beethoven-Jubiläum der Stadt Bonn und eine Ballettmusik für das Royal Ballet in London. Doch am Anfang meiner Laufbahn hatte ich keine Möglichkeit, meine Musik aufzuführen. Die Stücke von meinem Debütalbum „Memoryhouse“ zum Beispiel haben wir erst zehn Jahre nach Veröffentlichung der CD zum ersten Mal aufgeführt.
Sie werden heute oft dem Genre „Neo-Klassik“ zugeordnet. Mögen Sie diesen Begriff?
Richter: Nein. Wir hatten ja bereits eine „Neo-Klassik“ in den 1920er-Jahren, für diese Musik ist „Neo-Klassik“ eine passende Bezeichnung. Die heutige Verwendung des Begriffs finde ich unpassend, für mich fühlt sich das eher an wie eine Lifestyle-Marke. Ich verstehe natürlich das Bedürfnis, eine Musik zu beschreiben und einzuordnen. Andererseits: Die Verbindung zwischen einem Künstler und seinem Publikum macht ja nicht an Halt an Grenzen von irgendwelchen Kategorien.
In Ihrem jüngsten Werk „Voices“ wird zu Ihrer Musik die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte vorgetragen. Wie kam es zu dieser Kombination?
Richter: Hilary Hahn hatte mich 2010 gebeten, etwas für ihr Album „Encores“ zu schreiben. Dies war das Stück „Mercy“, mit dem ich die Situation in Guantanamo reflektiert habe. Mir wurde durch die Zustände in diesem Gefangenenlager klar, wie sich die Welt verändert hat: Populismus und autoritäre Politik sind erstarkt, der liberale Konsens wird zunehmend infrage gestellt. Und so habe ich „Mercy“ dann als Grundstein genommen für ein größeres Werk, das angesichts des Zustands unserer Welt nicht hoffnungslos ist, sondern sich auf etwas Positives konzentriert: auf die Erklärung der Menschenrechte.
Die amerikanischen Minimalisten Glass und Adams haben sich in Opern wie „Satyagraha“ oder „The Death of Klinghoffer“ mit Politik auseinandergesetzt. Im Vergleich dazu erscheint Ihr Ansatz eher plakativ.
Richter: Es ist bei mir sicher eine andere Beziehung zwischen Inhalt und dem musikalischen Argument, „Klinghoffer“ zum Beispiel lebt von der musikalischen Dramatisierung einer politischen Situation. Ich habe mich hier für eine sehr lesbare Formel entschieden, bei welcher der Text alles überstrahlt. Die Musik ist minimal und reduziert, das ermöglicht dem Zuhörer, über die Worte nachzudenken, die er gerade gehört hat. Insofern sehe ich bei „Voices“ weniger eine Ähnlichkeit zu Glass oder Adams, eher eine Verbindung zu den frühen Songs von Bob Dylan oder Woody Guthrie.
Sehen Sie sich dennoch als Komponist in der Tradition der Minimal Music?
Richter: Ja, mich interessiert die tonale Sprache, ebenso die Betonung des Rhythmus, auch das Einbeziehen von Wiederholungen. Besonders die frühen Werke der Minimal Music finde ich, wenn man die damalige Orthodoxie an den Hochschulen bedenkt, verblüffend undogmatisch, ja revolutionär. Wo ich studiert habe, wurde das schlicht nicht als Musik ernst genommen. „So etwas kann man doch nicht hören“, wurde mir da gesagt.
Die Corona-Krise hat bei einigen Branchen die Hoffnung auf einen „Reset“, einen besseren Neuanfang geweckt. Angenommen, es gibt einen Neustart der Klassik-Branche: Was würden Sie ändern?
Richter: Ich würde zum Beispiel bei Orchestern versuchen, den Fokus etwas zu verschieben, weg vom Standard-Repertoire hin zu mehr zeitgenössischer Musik. Natürlich sind Mozart, Mahler und Beethoven unglaubliche Schätze, und es ist wichtig, sie aufzuführen. Gleichzeitig gibt es aber auch sehr viel interessante Musik aus den vergangenen Jahrzehnten – und eine junge Generation, die sehr neugierig ist und sich vor allem mit der Kultur ihrer Zeit beschäftigen will.
Würden Sie es auch begrüßen, wenn mehr Elektronik im Konzertsaal zum Einsatz kommt?
Richter: Sicher. Für meine Arbeit spielt diese Trennung zwischen akustischen und elektronischen Instrumenten keine Rolle. Ich sehe in der Elektronik eher eine Fortführung, eine Erweiterung der verfügbaren Klangpalette. Die Suche nach neuen Klangfarben hat übrigens auch die Entwicklung des Orchesters im 18. und 19. Jahrhundert angetrieben, auch die Weiterentwicklung des Klaviers. Insofern wäre es für mich nur logisch, wenn mehr Elektronik Eingang ins Orchester findet.
Sie sind auch Filmkomponist. Würden Sie sich beim System Hollywood ebenso Veränderungen wünschen?
Richter: Nein. Natürlich hat diese Arbeit ihre Vor- und Nachteile, aber das sind zwei Seiten der gleichen Medaille. Was mir gefällt, ist dieser kollektive Prozess, sprich: dass man im Team versucht, eine Lösung zu finden, zusammen mit Regisseur, Kameramann und Cutter. Auf der anderen Seite ist es ein industrieller Prozess. Vor allem bei großen Produktionen musst du deshalb häufig mit Erwartungen von Leuten umgehen, die nicht das musikalische und manchmal auch nicht das filmische Verständnis haben. Das ist nicht immer einfach.
Wünschen Sie sich bei Filmmusiken mehr künstlerische Freiheit?
Richter: Ach, nein. Die habe ich doch bei meinem Platten und meiner Konzertmusik. Das ist nun mal ein Unterschied: Eine Filmmusik ist keine Sinfonie, so einfach ist das. Nein, ich sehe das nicht als Verlust oder Ungerechtigkeit, wenn jemand mir nicht erlaubt, zu seinem Film eine Sinfonie zu komponieren.
Welche Dinge werden Sie selbst nach der Pandemie anders machen?
Richter: Ich bin in den letzten Jahren sehr viel geflogen, nicht nur zu Konzerten, sondern auch für viele andere Dinge wie zum Beispiel Interviews. Da gibt es auf jeden Fall ein paar Sachen, für die ich in Zukunft nicht mehr ins Flugzeug steigen werde. Wir haben uns jetzt in einer Videokonferenz unterhalten – und es hat genauso gut funktioniert.