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Interview Martha Argerich

„Perfektion ist für mich das Ende von etwas“

Ihrem Legendenstatus zum Trotz sieht Martha Argerich das Üben als unendlichen Prozess an. Den Glauben an die Perfektion überlässt sie lieber anderen.

vonGregor Burgenmeister,

Ihre Abneigung gegenüber Interviews ist fast so legendär wie sie selbst. Trotzdem durften wir die 82-jährige Jahrhundertpianistin anlässlich der Vorstellung ihres neuen Martha Argerich Festivals, das in diesem Jahr in besonderen Spielstätten der Hansestadt stattfindet, exklusiv zum Gespräch treffen.

Ich muss gestehen, dass mein Lampenfieber vor diesem Interview von Tag zu Tag größer wurde …

Martha Argerich: Nicht größer als meines (lacht). Eigentlich weiß ich nichts über mich.

In einem Ihrer Gespräche mit Ihrem Biografen Olivier Bellamy haben Sie einen französischen Philosophen zitiert, der sagte, die Tragödie unserer Zeit sei, dass alle sich ausdrücken wollen, aber niemand etwas zu sagen hat.

Argerich: Ach ja (lacht). Weil ich wahrscheinlich nichts zu sagen habe. Ich mag das sehr!

Aber mein Empfinden war, dass es ein Widerspruch ist. Weil Sie auch jenseits der Musik viel zu sagen haben. Sind Sie vielleicht einfach in einer anderen Zeit verwurzelt?

Argerich: Ich habe nicht das Gefühl, etwas zu sagen zu haben. Zumindest finde ich es nicht interessant. Aber Sie denken anscheinend anders. Naja, wenn man mich fragt, könnte es sein. Viel lieber möchte ich aber üben.

Sie haben viel Lebenserfahrung …

Argerich: Üben muss man immer neu. Erfahrung allein reicht nicht. Natürlich habe ich in meinem Leben sehr viel geübt. Trotzdem muss man immer wieder üben.

Was suchen Sie, wenn Sie üben?

Argerich: Manchmal muss ich etwas lernen. Und sonst muss ich etwas auffrischen. Man spielt so verschiedene Stücke, es ist wie bei der Begegnung mit unterschiedlichen Menschen, jeder ist anders.

Ist die Begegnung im Konzertsaal vollendet? Das Üben ist ja letztendlich die Vorbereitung auf das Konzert.

Argerich: Nicht nur auf das Konzert. Das Üben ist unendlich. Es gibt kein Ziel, wenn man einem Menschen begegnet. Das Konzert ist ein Teil des Weges, und der ist unendlich. Ich habe gehört, dass Swjatoslaw Richter immer nach dem Konzert das nochmal geübt hat, was er zuvor auf der Bühne gespielt hat.

Weil er nicht zufrieden war mit dem, was er spielte?

Argerich: Oder weil er etwas entdeckt hat, was er vorher nicht wusste. Das mache ich nicht. Aber er hat es so gemacht. Das Konzert ist nicht die Endstation.

Mit welcher Vorstellung gehen Sie auf die Bühne? Haben Sie ein Bild davon, was Sie an diesem Abend umsetzen wollen?

Argerich: Nein. Ich möchte einfach so gut spielen, wie ich kann, und die Musik erleben, gemeinsam mit dem Publikum. Aber ich habe kein Ziel, etwas Bestimmtes zeigen zu wollen. So bin ich nicht.

Im Gegensatz zu Michelangeli zum Beispiel …

Argerich: Ja, aber er hat nie etwas darüber gesagt. Und ich weiß nicht, was er gedacht hat. Aber er spielte wie Skulpturen. Ob er das auch so fühlte, weiß ich nicht, aber ich habe es so empfunden. Wenn er ein Stück spielte, war es immer fast exakt gleich. Im Gegensatz zu Horowitz. Bei ihm war ein Stück jedes Mal anders.

Michelangeli hat wie ein bildender Künstler versucht, die eine fertige, perfekte Interpretation auf die Bühne zu bringen. Bei Ihnen scheint die Musik aus dem Moment heraus zu entstehen …

Argerich: Musik ist wie das Leben. Es fließt immer. Alles. Es gibt nichts, das wir festhalten können. Auch wenn wir Fotos aufnehmen, können sie nicht das Leben so festhalten, wie es ist. Es kommt immer auch auf den Zustand des Betrachters an. Bei der Musik ist das gleich. Wenn einem zum Beispiel eine Aufnahme sehr gefällt, kann man drei Tage später schon wieder das Gegenteil empfinden. Und natürlich ist das dann auch wahr. Ein Konzert lässt sich auch nicht wiederholen, es ist einmalig, und das ist gut so. Es ist ein Abenteuer.

Abenteuer heißt auch Risiko.

Argerich: Ja. Aber alles hat Risiko im Leben, nicht wahr?

Ist Musik dann immer ein Balanceakt zwischen Perfektion und Freiheit?

Argerich: Ich glaube nicht, dass es Perfektion gibt. Keine falschen Töne zu spielen, das ist nicht Perfektion. Es hängt davon ab, wie etwas klingt. Der Ausdruck, die Phrasierung, überhaupt eine Vorstellung vom ganzen Werk zu haben, darauf kommt es an, nicht nur auf die richtigen Töne. Der Begriff „Perfektion“ ist mir verdächtig.

Und wenn ich „Perfektion“ durch „Ideal“ ersetze?

Argerich: Streben nicht alle nach einer idealen Idee? Ja, natürlich. Perfektion ist für mich hingegen immer das Ende von etwas.

„Ich möchte einfach so gut spielen, wie ich kann“: Martha Argerich
„Ich möchte einfach so gut spielen, wie ich kann“: Martha Argerich

Sie sagten mal, dass Sie sich auf der Bühne wie ein Insekt in einem Brennglas fühlen.

Argerich: Manchmal, aber nicht immer. Natürlich, wenn man alleine spielt, dann ist dieses Gefühl stärker, weil man komplett alleine ist. Aber mit einem Orchester oder anderen Musikern auf der Bühne fühlt man sich nicht so. Es ist viel besser, nicht allein auf der Bühne zu sein. Für mich ist das sehr wichtig.

Sie haben sich seit Langem auf ein sehr reduziertes Solo-Repertoire konzentriert. Wie hat sich Ihr Blick auf diese Werke über die Zeit geändert und wie viel Martha Argerich steckt darin, wenn Sie beispielsweise das Ravel-Konzert spielen?

Argerich: Ich kann diese Frage nicht beantworten. Als Interpreten versuchen wir immer herauszufinden, was der Komponist wollte. Ob es uns gelingt oder nicht. Wir sind Vermittler und Übersetzer, aber wir haben auch unsere eigene Stimme und Handschrift. Natürlich kommt so auch etwas unserer Persönlichkeit durch.

Empfinden Sie sich also mehr als Übersetzerin oder als Mitschöpferin?

Argerich: Ich weiß es nicht. Das sind eigentlich nur Worte. Gulda hat immer gesagt, er wäre mehr Fotograf als Maler.

Und sind Sie mehr Malerin als Fotografin?

Argerich: Das sollen andere beurteilen. Ich glaube, ich bin ganz natürlich. Ich mag es nicht, wenn man denkt, man könnte alles tun, was man will. Wir sollten Respekt haben vor der Arbeit, die wir tun.

Wie ist Ihr Verhältnis zu zeitgenössischer Musik?

Argerich: Ich spiele nicht sehr viel, auch wenn ich daran interessiert bin. Wahrscheinlich bin ich einfach zu faul. Ich bin eine Meisterin darin, Zeit zu verschwenden (lacht).

Gibt es für Sie Inspirationsquellen jenseits der Musik?

Argerich: Ich glaube schon. Ballett ist etwas, das mich interessiert. Es gibt mir Freude. Ja das brauchen wir: Freude. Und die Begegnung mit Menschen und Gespräche.

Sie wollten einmal Ärztin werden. Kann Musik mehr geben als Freude, kann Musik heilen?

Argerich: Manche Leute sagen das. Abbado hat gesagt, Musik wäre die beste Medizin. Wenn man Musik macht oder Musik hört, geht man in eine andere Welt. Wenn man leidet, kann sie also helfen. Sie nimmt einen mit sich. Ich weiß nicht, ob sie Schmerzen heilen kann, aber Musik gibt mir selbst eine fantastische Energie, die ich nirgendwo sonst finde.

Was kann Musik politisch und gesellschaftlich leisten?

Argerich: Musik kann etwas zum Ausdruck bringen, das Worte nicht beschreiben können, weil diese oft in die Irre führen. Und wenn man Musik aufführt, ist das eine öffentliche Erfahrung. Barenboim hat gesagt, dass man in der Musik über das ­Leben lernt. In der Politik könnte es so sein, weil jeder etwas machen muss, etwas sagen muss und den anderen zuhören. Alles geht nur gemeinsam. Jeder muss sein Ding tun und den anderen zuhören. Manchmal bist du die zweite Stimme, manchmal die erste, manchmal die dritte, manchmal die vierte Stimme. Das ist doch eine wunderbare Sache und könnte ein Beispiel für Politiker sein, wie Musik in einem Orchester zu spielen, um gemeinsam in Harmonie etwas zu erreichen.

Wie in der Kammermusik auch, die Sie oft und gerne spielen …

Argerich: Ja, in der Kammermusik kommt alles zusammen. Musik ist ein wundervolles Kommunikations-Tool. Ich weiß nicht, warum ich Kammermusik so gerne mache, aber ich liebe sie. Kommunikation ist sehr wichtig für mich.

Sie haben viele Entscheidungen in Ihrem Leben getroffen, über die jeder Manager sagen würde, das wäre schlecht für die Karriere.

Argerich: Manager waren nie wirklich wichtig für mich. Ich bin nicht der Typ dafür, darauf zu warten, dass man mir sagt, was zu tun ist oder was nicht. Auch wenn ich zu Ärzten gehe, höre ich zwar zu, habe aber auch Fragen. Und ich will wissen, warum etwas so ist. Ich bin nicht sehr gehorsam. Aber auch nicht dominant (lacht).

Was macht Sie glücklich?

Argerich: (seufzt tief) Ich bin gerade glücklich. Ich weiß nicht wa­rum, aber ich bin glücklich (lacht).

Album-Tipp:

Album Cover für Rendezvous with Martha Argerich Vol. 1

Rendezvous with Martha Argerich Vol. 1

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