Dass Ludovico Einaudi mit seiner Musik viele Menschen berührt, konnte man zuletzt bei der Oscar-Verleihung sehen: In gleich zwei der prämierten Filme, „Nomadland“ und „The Father“, sind es Stücke des italienischen Komponisten, die die Gefühlswelt der Protagonisten spiegeln. Einaudi studierte einst bei Luciano Berio, schrieb anfangs von Serialismus und Zwölftontechnik inspirierte Werke, wurde dann aber mit einer Musik erfolgreich, die heute dem Genre „Neo-Klassik“ zugeordnet wird. Im Internet gilt Einaudi mit seinen melodischen, oft sehr eingängigen Stücken als der am häufigsten gestreamte Komponist. Das Interview fand im Juni 2021 statt – exakt vier Jahrzehnte nach der ersten öffentlichen Aufführung einer Einaudi-Komposition.
Ludovico Einaudi, erinnern Sie sich, wie vor genau vierzig Jahren im italienischen Rovereto Ihr Lehrer Luciano Berio eine Ihrer ersten Kompositionen dirigierte?
Ludovico Einaudi: Ja, „Per vie d’acqua“, ein eher kurzes Stück für Orchester. Ursprünglich hatte ich es für Klavier, Harfe, Marimba und Vibrafon geschrieben, aber dann bat mich Berio, eine Transkription für Orchester anzufertigen.
Man kann dieses Stück heute allerdings nirgends finden.
Einaudi: Ich glaube, ich habe die Aufführung damals selbst mitgeschnitten, aber es gibt keine offizielle Einspielung davon, weder von der einen, noch der anderen Fassung.
Würden Sie denn wollen, dass Ihre heutigen Fans das Stück hören? Schließlich komponierten Sie damals wesentlich komplexer…
Einaudi: Ja, das war ganz anders als die Musik, die ich heute schreibe. Ich war damals Student und habe verschiedene Musiksprachen ausprobiert. Das ist Teil meiner Biografie, und ich hätte nichts dagegen, wenn sich das heute jemand anhört. Meine Musiksprache hat sich über die Jahrzehnte entwickelt und ist jetzt viel persönlicher.
Wenn Sie Lehrer wären: Wie würden Sie heute Komposition unterrichten?
Einaudi: Ich würde mich vermutlich nicht allzu lange mit den alten, klassischen Formen aufhalten. Das kann man als Student natürlich in der Vorbereitung tun, Kontrapunkt studieren etcetera. Aber ich würde dann eher Workshops geben, die sich auf das kreative Element fokussieren, auf Fragen wie zum Beispiel: Wie kann man eine Form aus der Natur, etwa einen Berg oder ein bestimmtes Licht, musikalisch beschreiben, in einem Stück Musik ausdrücken?
Wie wichtig ist für angehende Komponisten das Reisen, die Begegnung mit anderen Kulturen?
Einaudi: Das hängt von der persönlichen Herangehensweise ab. Natürlich können Reisen interessante Eindrücke sein. Die Wurzeln von Kultur in verschiedenen Teilen der Welt zu suchen und zu untersuchen ist immer sehr interessant. Auch die Beziehungen der Kulturen untereinander zu verstehen, etwa wenn man in Afrika auf Ursprünge des Blues stößt. Wie und warum haben sich Musiktraditionen entwickelt? Manchmal geschieht das ja auch aus wirtschaftlichen Gründen, der Handel und das Reisen haben viele Dinge verändert.
Welche Rolle spielen bei einem Studium die alten Meister? Sind Bach, Beethoven oder Strawinsky immer noch die Basis?
Einaudi: Ich würde nicht sagen, dass es zwingend notwendig ist, sich mit ihnen zu beschäftigen, aber ich persönlich bin sehr glücklich darüber, dass ich Bach und Mozart studieren und mich mit ihrer Musiksprache befassen konnte. Ob sie auch die nächsten hundert Jahre die kulturelle Basis sein werden, das weiß ich nicht. Als ich aufwuchs, galten in der Klassik Strawinsky oder Schönberg als Referenz – heute wissen viele Menschen nicht mehr, wer Schönberg war.
Sie werden zu Vertretern des Genres „Neo-Klassik“ gezählt, welches sich in den letzten Jahren einer äußerst großen Beliebtheit erfreut. Liegt dies auch daran, dass es tonale Musik ist?
Einaudi: Das weiß ich nicht. Ich glaube auch gar nicht, dass man immer eindeutig bestimmen kann, ob ein Stück tonal oder atonal ist. Tonale Musik kann sehr vorhersehbar sein – und atonale sehr spannend, manchmal musst du atonal sein, um zu berühren. Am besten ist es, wenn man für alle Richtungen offen bleibt, wenn du eine Musik kreieren kannst, die einerseits tonal ist, aber andererseits genauso die Möglichkeiten der atonalen Musik aufnimmt und mit ihnen spielt. Wenn du nur atonal bist, ist die Welt für mich zu grau – und wenn du nur tonal bist, ist die Welt zu einfach. Es geht darum, konsonant und dissonant sein.
Wo finde ich denn heute den dissonanten Einaudi?
Einaudi: Gute Frage (lacht). Nehmen Sie mein Stück „My Journey“, das ich für den Anthony Hopkins-Film „The Father“ komponiert habe. Es klingt wie eine Orgel, ist aber für Streicher komponiert, es gibt darin viele harmonische Reibungen. Es ist vielleicht ein eher tonales Stück, aber es gibt eben auch die Spannungen, die die Tonalität durchkreuzen.
Wie erklären Sie sich den Erfolg der „Neo-Klassik“?
Einaudi: Ich denke, dass es heute viele Menschen gibt, die Musik über alle Genre-Grenzen hinweg hören, die sich ohne irgendwelche Barrieren zwischen Rock, Jazz oder Pop bewegen. Manche von ihnen finden dann Gefallen an einer Musik, die ohne Gesang, ohne Worte auskommt, ohne Beat und Schlagzeug, die auch nicht im typischen Song-Schema ABABC stattfindet.
Was ja auf einen Großteil der klassischen Musik zutrifft…
Einaudi: Ja, das trifft auch auf Beethoven und Mozart zu, aber ich denke, dass vor allem die jungen Menschen heute ein Bedürfnis haben, von Emotionen berührt zu sein, die aus der heutigen Zeit stammen, aus der Welt, in der sie leben. Mozart hatte sicher ein sehr gutes Gespür für die Gefühle der Menschen seiner Zeit und er hat diese so genial in Musik verwandelt, dass seine Werke uns bis heute berühren. Aber ich denke, dass es auch einen Bedarf für Musik gibt, die die Gefühle unserer heutigen Zeit widerspiegelt, die sozusagen aus der Gegenwart zu dir spricht.
Ist vielleicht auch ein Erfolgsfaktor, dass wir heute, von der Küche bis zum Konzertsaal, Musik in allen möglichen Zusammenhängen hören, wofür sich die „Neo-Klassik“ gut eignet?
Einaudi: Das könnte sein. Wobei ich gestehen muss, dass ich zum Kochen auch „Eine kleine Nachtmusik“ hören kann. Ich mag es, Mozart zu hören. Aber genauso suche ich nach Musik, die mehr mit meiner Seele korrespondiert – und die finde ich häufiger bei Komponisten unserer Zeit.
Wenn Sie sich zu Hause ans Klavier setzen, spielen Sie dann nur Einaudi?
Einaudi: Nein, manchmal auch Chopin oder Beethoven. Ich habe sehr viele verschiedene Notenbücher zu Hause.
Sie sprachen vorhin von den „alten, klassischen Formen“. Nun haben Sie 2019 mit „Winter Journey“ selbst eine Oper geschrieben. Wie war das für Sie?
Einaudi: Mir hat das viel Spaß gemacht, auch weil ich ein wunderbares Team um mich herum hatte. Die Kehrseite ist nur, dass die Uhr in der Welt der Oper sehr langsam tickt im Vergleich zur Geschwindigkeit, in der unser normales Leben voranschreitet. Es dauert alles unheimlich lange. Auch das Verhältnis von Aufwand und Ertrag ist bedauerlich: In der Produktion meiner Oper steckte so viel Arbeit, das Ergebnis war wundervoll – aber dann gab es lediglich drei Aufführungen in Palermo. Da würde man sich natürlich wünschen, dass eine Oper länger gespielt wird, damit möglichst viele Menschen sie sehen können.
Gibt es denn keine Pläne für zukünftige Aufführungen an anderen Häusern?
Einaudi: Ich plane, von der Oper eine „Pocket-Version“ zu erstellen. Weil ich nicht Jahre warten will, bis sich große Opernhäuser entscheiden, was sie auf den Spielplan setzen. Es wird dann eine Version für Kammerensemble statt großem Orchester, damit man die Oper leichter umsetzen kann.
Werden Sie sich in nächster Zeit noch weiteren, großen klassischen Gattungen widmen?
Einaudi: Vor drei Jahren habe ich ein Klavierkonzert geschrieben, vielleicht schreibe ich noch ein weiteres, oder eine Sinfonie – ich bin dafür grundsätzlich offen. Ich erhalte auch Aufträge von Orchestern. Aber ich muss mir meine Zeit gut einteilen und mich entscheiden, in welche Richtung ich gehen will, welches Projekt ich mache und welches nicht. Ich versuche, bei der Auswahl meinem Instinkt und meiner Seele zu folgen.
Das Bild einer Greenpeace-Aktion mit Ihnen am Flügel mitten im arktischen Meer ging 2016 um die Welt. Beeinflusst der Klimaschutz-Gedanke heute Ihre Tourneeplanung?
Einaudi: Ja, ich will das Fliegen reduzieren, mir gefällt auch nicht die Idee des ständigen Reisens. Aber ich muss es natürlich balancieren mit den Anfragen, die ich bekomme. Ich kann nicht zu jedem Nein sagen, denn es gibt so viele Menschen, die darauf warten, mich zu sehen, die will ich nicht alle enttäuschen. Diesen Sommer werde ich übrigens zu meinen Konzerten in Italien nur mit dem Bus reisen. Wichtig ist, dass wir uns alle der Situation bewusst sind. Und deshalb werde ich auch in Zukunft solche Projekte wie das von Greenpeace unterstützen. Wo ich kann, werde ich versuchen zu helfen, die Aufmerksamkeit auf diese Umwelt-Themen zu lenken.
Einige Ihrer Kompositionen für die Leinwand sind jüngst auf dem Album „Cinema“ erschienen. Angenommen, Ihr Leben wäre ein Film, wäre es eher Drama oder Komödie?
Einaudi: Vielleicht wäre dieser Film ein bisschen so wie „Nomadland“. In diesem Film sind die Menschen ja sehr verbunden mit der Natur – und mir gefällt so ein Leben besser als das in der Großstadt. Ich genieße es, wenn ich einen Ort habe, wo ich nicht die ganze Zeit von Menschen umgeben bin. Die Natur gibt mir manchmal mehr als alles andere.